Kafka am Strand
Möglichkeit einer solchen Gruppenhypnose hin. Meine beiden Kollegen stimmten mir im großen und ganzen zu. Zufällig hatte die Sache, wenn auch nicht direkt, mit unserem Forschungsthema zu tun.
»Das hört sich sehr vernünftig an«, sagte Dr. Toyama, nach einigem Nachdenken. »Dieser Bereich befindet sich außerhalb meines Fachgebiets, aber ich halte diese Möglichkeit für sehr einleuchtend. Eins verstehe ich jedoch nicht. Was hat die Hypnose aufgehoben? Es muss ja ein ›Gegenmittel‹ gegeben haben.«
Ich musste ehrlich zugeben, dass ich es nicht wusste und auf diese Frage wieder nur mit einer Theorie antworten konnte. Meine Vermutung war, dass ein Mechanismus in Kraft getreten war, der die Hypnose nach einer bestimmten Zeit automatisch beendet hatte. Im Grunde ist unser körpereigenes Abwehrsystem nämlich sehr stark. Auch wenn es zeitweise unter Kontrolle von außen gerät, läutet nach einer gewissen Zeit so etwas wie eine Alarmglocke, und es wird ein Notprogramm aktiviert, um den Fremdkörper – in diesem Fall die Hypnosewirkung –, der die Selbsterhaltungsfunktionen blockiert, zu entprogrammieren und auszuschalten.
Da uns an Ort und Stelle kein Material zur Verfügung stand, konnte ich leider keine präzisen Daten nennen, aber ich erzählte Dr. Toyama, dass bisher einige ähnlich »rätselhafte« Fälle aus dem Ausland berichtet worden seien, für die man keine logische Erklärung gefunden hatte. Mehrere Kinder hatten gleichzeitig das Bewusstsein verloren und waren nach einer gewissen Zeit wieder aufgewacht. Auch sie hatten keine Erinnerung an das Geschehene.
Der uns vorliegende Fall war also kein Einzelfall. 1930 hat sich in England in einem kleinen Ort in Devonshire ein ähnlich seltsames Ereignis abgespielt. Dreißig Mittelschüler, die hintereinander eine Landstraße entlanggingen, waren genauso plötzlich und grundlos ohnmächtig geworden. Nach einer gewissen Zeit waren alle unbeschadet wieder aufgewacht und so, als wäre nichts geschehen, auf den eigenen Beinen zur Schule zurückgekehrt. Ein Arzt hatte sie alle umgehend untersucht, aber nichts medizinisch Auffälliges feststellen können. Keins der Kinder konnte sich an irgend etwas erinnern.
Auch aus Australien wurde gegen Ende des letzten Jahrhunderts ein ähnlicher Vorfall gemeldet. In den Außenbezirken von Adelaide verloren etwa fünfzehn Mädchen im Backfischalter bei einem Ausflug ihrer Privatschule das Bewusstsein und wachten nach einer Weile fast gleichzeitig wieder auf. Sie wiesen keinerlei Symptome eines Sonnenstichs auf, und die ganze Sache blieb ein Rätsel. Ohnehin sei es kein besonders heißer Tag gewesen. An einen Sonnenstich hatte man vermutlich hauptsächlich in Ermangelung anderer Erklärungen gedacht.
Die Vorfälle weisen folgende Gemeinsamkeiten auf: Eine Gruppe von Jungen oder Mädchen befindet sich außerhalb ihrer Schule. Alle verlieren gleichzeitig das Bewusstsein und kommen nahezu gleichzeitig wieder zu sich. Es gibt keine Nachwirkungen. Soweit die Übereinstimmungen. Einige der zufällig anwesenden Erwachsenen verlieren wie die Kinder das Bewusstsein, andere wiederum nicht.
Es sind noch weitere ähnliche Fälle bekannt, doch diese beiden gelten als wissenschaftlich am besten dokumentiert. Unser Vorfall in der Präfektur Yamanashi wies hingegen eine auffällige Abweichung auf: Ein Junge erwachte nicht aus der Hypnose bzw. der Bewusstlosigkeit. Dementsprechend vermuteten wir, dass der Schlüssel zur Klärung des Vorfalls in der Reaktion dieses Jungen lag. Nach Beendigung unserer Untersuchungen vor Ort kehrten wir nach Tokyo zurück und suchten das Militärhospital auf, in dem der Junge lag.
Das beharrliche Interesse der Armee an diesem Vorfall stand vermutlich in Zusammenhang mit der Möglichkeit, dass es sich doch um eine chemische Waffe handelte, nicht wahr?
Ja, so habe ich das auch verstanden. Eine präzisere Antwort würden Sie freilich von Dr. Toyama direkt erhalten.
Major Toyama ist im März 1945 im Dienst bei einem Bombenangriff gefallen.
Ach? Das tut mir sehr leid. Im Krieg sind viele tüchtige Menschen ums Leben gekommen.
Am Ende gelangte das Militär indes doch nicht zu dem Schluss, dass der Vorfall von einer » chemischen Waffe « ausgelöst worden war. Andererseits war es jedoch für den Fortgang des Krieges unerheblich, wenn die Ursache letztlich ungeklärt blieb. Nicht wahr?
Ja, so sehe ich es auch. Das Militär schloss die Untersuchung des Vorfalls bald ab. Dass der
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