Kafka am Strand
nicht einmal mehr seinen Namen. Er konnte sich weder an seine Adresse noch an seine Schule oder an seine Eltern erinnern. Lesen konnte er auch nicht mehr. Er wusste nicht, dass Japan auf der Erde liegt. Er verstand nicht, was Japan und was die Erde ist. Sein Kopf war buchstäblich leer, er war als unbeschriebenes weißes Blatt in sein Leben zurückgekehrt.
9
Als ich wieder zu mir komme, liege ich in einem dichten Dickicht wie ein Baumstamm auf der feuchten Erde. Tiefe Dunkelheit umgibt mich; ich kann nichts sehen.
Den Kopf im stachligen Gestrüpp hole ich Luft. Es riecht nach den nächtlichen Ausdünstungen von Pflanzen. Und nach Erde. Ein leichter Geruch nach Hundekot mischt sich darunter. Durch die Äste der Bäume sehe ich den Nachthimmel, der, obwohl weder Mond noch Sterne scheinen, auf wundersame Weise hell ist. Wie eine Leinwand reflektiert die Wolkenschicht das Licht auf der Erde und wirft es zurück. Die Sirene eines Krankenwagens ertönt, kommt langsam näher und entfernt sich dann wieder. Als ich lausche, vernehme ich leise den Ton von Reifen fahrender Autos. Offenbar befinde ich mich noch in einem Teil der Stadt.
Angestrengt bemühe ich mich, meine Person irgendwie wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen. Dazu muss ich erst einmal die Fragmente meines Ichs einsammeln, als würde ich eins nach dem anderen die verstreuten Teile eines Puzzles zusammensuchen. Mir ist, als erlebte ich so etwas nicht zum ersten Mal. Ich kenne das Gefühl von früher. Wann ist das nur gewesen? Ich durchforsche mein Gedächtnis. Doch auf der Stelle reißt der brüchige Faden. Ich schließe eine Weile die Augen.
Zeit vergeht. Plötzlich fällt mir mein Rucksack ein, und leichte Panik überfällt mich. Mein Rucksack … Wo ist mein Rucksack? In ihm ist alles, was ich momentan besitze. Ich darf ihn nicht verlieren. Doch in dieser Dunkelheit kann ich nichts erkennen. Obwohl ich versuche aufzustehen, fehlt mir die Kraft, mich hochzuhieven.
Mühsam hebe ich den linken Arm (warum nur ist er so schwer?), halte mir die Uhr vors Gesicht und lese die Digitalanzeige: 11.26. Elf Uhr sechsundzwanzig in der Nacht. 28. Mai. Vor meinem inneren Auge taucht die Seite meines Tagebuchs auf. 28. Mai … Gut, es ist noch derselbe Tag. Ich habe nicht tagelang bewusstlos hier gelegen; es können höchstens ein paar Stunden gewesen sein. Ungefähr vier vielleicht.
Der 28. Mai – ein Tag, an dem ich das Gleiche getan habe wie immer. Nichts Besonderes ist vorgefallen. Ich bin ins Sportstudio gegangen und anschließend in die Komura-Bibliothek. Ich habe die gleichen Übungen wie immer gemacht und auf demselben Sessel in den gesammelten Werken von Soseki gelesen. Abends habe ich am Bahnhof gegessen. Fisch. Ein Fischmenü. Und zwei Portionen Reis. Misosuppe und Salat. Und dann … an das, was danach geschehen ist, kann ich mich nicht erinnern.
In meiner linken Schulter verspüre ich einen stechenden Schmerz. Mit dem Körperbewusstsein ist auch mein Schmerzempfinden zurückgekehrt. Der Schmerz fühlt sich an, als wäre ich heftig gegen etwas geprallt. Ich streiche mit der rechten Hand über die Stelle unter meinem Hemd. Es gibt da offenbar keine Wunde und auch keine Schwellung. Ob ich einen Unfall gehabt habe? Meine Kleidung ist jedoch nicht zerrissen, und außer meiner linken Schulter tut mir nichts weh. Vielleicht nur ein Bluterguss.
Vorsichtig bewege ich im Dickicht meinen Körper und taste die Umgebung ab. Aber meine Hände berühren nur hartes, krüppliges Gestrüpp, das an die Herzen gepeinigter Tiere erinnert. Mein Rucksack ist nicht da. Ich wühle in meinen Hosentaschen. Die Brieftasche ist noch da. Darin ist etwas Bargeld, die Key-Card vom Hotel und eine Telefonkarte. Auch mein kleines Portemonnaie, mein Taschentuch und mein Kugelschreiber sind da. Soweit ich feststellen kann, habe ich nichts verloren. Ich habe meine cremefarbenen Chinos an, ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt und darüber ein langes schmales Jeanshemd. Dazu dunkelblaue Topsider. Meine Mütze fehlt, eine Baseballkappe mit dem Logo der New York Yankees. Beim Verlassen des Hotels hatte ich sie noch auf. Jetzt nicht mehr. Sie muss irgendwo heruntergefallen sein. Oder ich habe sie liegen lassen. Egal, solche Kappen gibt es überall zu kaufen.
Schließlich entdecke ich meinen Rucksack. Er lehnt am Stamm einer Kiefer. Warum ich mein Gepäck wohl dort abgestellt habe und dann eigens ins Dickicht gekrochen bin, um dort umzufallen? Wo bin ich überhaupt? Mein Gedächtnis ist wie
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