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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Flecken. Allmählich hört auch das Zittern auf.
    Nach etwa zehn Minuten kommt Sakura. Es ist schon fast eins. Sie trägt ein einfaches graues Sweatshirt und ausgeblichene Blue Jeans. Das Haar hat sie im Nacken zusammengebunden, und auf dem Kopf hat sie eine dunkelblaue Mütze mit der Aufschrift »New Balance«. Als ich ihr Gesicht sehe, hören meine Zähne endlich auf zu klappern. Sie mustert mich, als würde sie ein Hundegebiss in Augenschein nehmen. Dann stößt sie einen Seufzer aus und klopft mir zweimal auf den Hintern. »Komm«, sagt sie.
    Ihre Wohnung liegt etwa zwei Straßen von Lawson entfernt in einem billigen, einstöckigen Wohnblock. Sie steigt die Treppe hinauf, holt den Schlüssel aus der Tasche und schließt die grün beschichtete Tür auf. Die Wohnung hat zwei Zimmer, eine kleine Küche und ein Bad. Die Wände sind dünn, und der Boden knarrt aufdringlich. Am Tag knallt wahrscheinlich die heiße Nachmittagssonne hinein. Irgendwo hört man eine Toilettenspülung rauschen und ein Regal klappern. Zumindest gibt es Anzeichen menschlichen Lebens. Geschirr im Spülstein, leere PET-Flaschen, aufgeschlagene Zeitschriften, schon etwas verblühte Tulpen in einem Blumentopf, ein mit Tesa an den Kühlschrank geklebter Einkaufszettel, Strümpfe über einer Stuhllehne, auf dem Tisch eine Zeitung, die Seite mit dem Fernsehprogramm aufgeschlagen, ein langes schmales Päckchen Virginia Slims und ein Aschenbecher mit ein paar Kippen. Seltsamerweise lässt dieser Anblick mich aufatmen.
    »Das ist die Wohnung von meiner Freundin«, erklärt Sakura. »Sie hat mit mir in einem Friseursalon in Tokyo gearbeitet, aber letztes Jahr ist sie aus irgendwelchen Gründen nach Takamatsu zurückgegangen. Aber weil sie für einen Monat in Indien ist, hat sich mich gebeten, in der Zeit auf ihre Wohnung aufzupassen. Außerdem vertrete ich sie auch an ihrer Arbeitsstelle. Als Friseuse. Ab und zu ist es eine nette Abwechslung, aus Tokyo wegzukommen, finde ich. Sie steht auf New Age, und wer weiß, ob sie überhaupt nach einem Monat aus Indien zurückkommt.«
    Sie fordert mich auf, mich an den Tisch zu setzen. Dann nimmt sie eine Dose Pepsi aus dem Kühlschrank und reicht sie mir. Kein Glas. Ich trinke normalerweise keine Cola. Zu süß und schlecht für die Zähne. Aber da ich großen Durst habe, leere ich die ganze Dose.
    »Hast du Hunger? Ich hab nur Fertignudeln im Becher, aber wenn du magst …«
    Ich hätte keinen Hunger, sage ich.
    »Du siehst voll gruslig aus. Weißt du das?«
    Ich nicke.
    »Also, was ist passiert?«
    »Das weiß ich auch nicht.«
    »Du weißt selber nicht, was war? Und wo du warst, aber es würde zu lange dauern, alles zu erklären«, fasst sie die Fakten zusammen.
    »Jedenfalls steckst du in Schwierigkeiten. Stimmt’s?«
    »In großen«, sage ich. Ich überlege, wie ich ihr am besten vermitteln soll, dass ich wirklich in der Klemme sitze.
    Eine Weile herrscht Schweigen. Die ganze Zeit über sieht sie mich mit gerunzelten Brauen an.
    »Du hast gar keine Verwandten in Takamatsu, oder? In Wirklichkeit bist du von zu Hause abgehauen.«
    Ich nicke.
    »Als ich in deinem Alter war, bin ich auch mal durchgebrannt. Ich kenne das Gefühl. Deshalb habe ich dir auch beim Abschied meine Handynummer gegeben. Ich dachte, das könnte nützlich sein.«
    »Danke«, sage ich.
    »Meine Eltern wohnten in Ichikawa, Präfektur Chiba. Ich kam überhaupt nicht mit ihnen aus, und die Schule hat mir auch gestunken. Also habe ich meinen Alten Geld geklaut und bin abgehauen. Ich war sechzehn. Bis Abashiri bin ich gekommen. Beim erstbesten Bauernhof habe ich nach Arbeit gefragt. Ich würde alles machen und schwer arbeiten. Für einen Platz zum Schlafen und Essen, Geld brauchte ich keins, habe ich gesagt. Die Bäuerin war sehr nett, hat mir Tee angeboten und mich gebeten, einen Moment zu warten. Und nachdem ich brav gewartet hatte, kam eine Polizeistreife und schickte mich postwendend nach Hause. Sie hatte mich gleich durchschaut. Damals ist mir etwas klargeworden. Im Grunde ist es überall das Gleiche. Um Arbeit zu finden, egal wo, musst du einen Beruf haben. Also bin ich von der Oberschule abgegangen, habe eine Fachschule besucht und bin Friseuse geworden.«
    Sie lächelt breit.
    »Ist doch eine gesunde Einstellung, findest du nicht?«
    Da kann ich ihr nur beipflichten.
    »Erzähl mir doch jetzt mal alles in Ruhe von Anfang an«, sagt sie, nimmt sich eine Virginia Slim aus dem Päckchen und zündet sie mit einem Streichholz an. »Heute

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