Kafka am Strand
die Nachrichten kommen, erfahren wir auf alle Fälle, ob hier in der Gegend irgendwas Gravierendes passiert ist. Dann können wir immer noch in Ruhe überlegen. Blut fließt aus allen möglichen Gründen, und oft ist es gar nicht so schlimm, wie es aussieht. Als Frau bin ich daran gewöhnt, jeden Monat massenhaft Blut zu sehen. Verstehst du, was ich meine?«
Ich nicke und spüre, wie ich rot werde. Sie löffelt Nescafe in einen großen Becher und setzt in einer Kasserolle Wasser auf. Bis es kocht, raucht sie. Nach ein paar Zügen löscht sie die Zigarette mit Wasser. Ein Geruch von Menthol und Rauch liegt in der Luft.
»Aber eine persönliche Frage würde ich dir gern noch stellen. Darf ich?«
Ja, sage ich.
»Deine Schwester wurde adoptiert. Deine Eltern haben sie vor deiner Geburt bekommen, ja?«
Ja, sage ich. Warum meine Eltern ein Kind angenommen haben, weiß ich nicht. Ich bin erst danach auf die Welt gekommen. Vielleicht unverhofft.
»Du bist aber ganz sicher, dass du das leibliche Kind deines Vaters und deiner Mutter bist?«
»Soweit ich weiß, ja«, sage ich.
»Und trotzdem hat deine Mutter, als sie fortging, nicht dich, sondern deine Schwester mitgenommen, die nicht ihr leibliches Kind ist. Normalerweise würde eine Frau das nicht tun.«
Ich schweige.
»Warum sie das wohl getan hat?«
»Ich weiß nicht«, sage ich kopfschüttelnd. Diese Frage habe ich mir selbst schon zehntausendmal gestellt.
»Aber das hat dich natürlich verletzt.«
Bin ich verletzt? »Ich weiß nicht genau. Aber wenn ich einmal heirate, will ich keine Kinder. Weil ich nicht weiß, wie man mit seinen Kindern umgehen soll.«
»Bei mir ist es nicht so total kompliziert wie bei dir, aber ich habe eine Menge Unsinn gemacht, weil es mit meinen Eltern nicht gut gelaufen ist. Deshalb verstehe ich deine Gefühle sehr gut. Trotzdem solltest du keine übereilten Entscheidungen treffen. Denn auf dieser Welt ist nichts endgültig.«
Sie steht vor dem Gasherd und trinkt aus ihrem großen Becher dampfenden Nescafe. Auf dem Becher ist ein Bild von der Muminfamilie. Sie schweigt, und ich sage auch nichts.
»Hast du gar keine Verwandten, an die du dich wenden könntest?«, fragt sie mich kurze Zeit später.
»Nein. Die Eltern meines Vaters sind vor langer Zeit gestorben, und er hat weder Brüder noch Schwestern, weder Onkel noch Tanten.
Ob das der Wahrheit entspricht, habe ich nie versucht herauszufinden. Zumindest bin ich sicher, dass es keine engen Familienbindungen gibt. Von Verwandten mütterlicherseits ist ebenfalls nie die Rede gewesen. Ich kenne ja nicht einmal den Namen meiner Mutter. Wie kann ich da wissen, ob sie Verwandte hat?«
»Wenn man dich so hört, könnte man meinen, dein Vater wäre ein Außerirdischer, der ganz allein von einem fremden Planeten auf die Erde kam, Menschengestalt annahm, eine Erdfrau entführt und dich gezeugt hat. Um seine Nachkommenschaft zu vermehren. Deine Mutter hat die Wahrheit erfahren, Angst bekommen und ist geflohen. Wie in so einem gruseligen Science-Fiction-Film.«
Dazu fällt mir nichts ein, also schweige ich.
»War ja nur ein Witz«, sagt sie und verzieht den Mund zu einem breiten Lachen, um zu bekräftigen, dass es sich tatsächlich um einen Scherz gehandelt hat. »Also hast du auf der ganzen weiten Welt niemanden, auf den du zählen kannst, außer dir selbst.«
»So ist es wohl.«
Eine Weile trinkt sie, gegen die Spüle gelehnt, ihren Kaffee.
»Ich muss ein bisschen schlafen«, sagt Sakura, als sei ihr das gerade eingefallen. Es ist schon nach drei.
»Um halb acht muss ich aufstehen, da ist nicht mehr viel Zeit. Aber ein bisschen schlafen muss ich. Durchmachen und dann zur Arbeit gehen, das ist zu ätzend. Was ist mit dir?«
Wenn es ihr nichts ausmache, würde ich gerne in irgendeiner Ecke in meinem mitgebrachten Schlafsack schlafen, erkläre ich. Dann packe ich meinen zusammengerollten Schlafsack aus, breite ihn aus und schüttele ihn auf. Sie schaut mir beeindruckt zu. »Wie ein Pfadfinder«, sagt sie.
Sie löscht das Licht und geht zu Bett. Ich mache die Augen zu und versuche zu schlafen. Aber es geht nicht. Der Gedanke an das weiße T-Shirt mit dem Blutfleck lässt sich nicht vertreiben. Das brennende Gefühl auf meinen Handflächen ist noch nicht verschwunden. Ich öffne die Augen und starre an die Decke. Irgendwo knarrt der Boden, irgendwo rauscht Wasser, irgendwo heult eine Krankenwagensirene. Obwohl es sehr weit entfernt zu sein scheint, ist es in der nächtlichen
Weitere Kostenlose Bücher