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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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sich zeigte.
    Das Warten war eine langwierige Angelegenheit. Er hatte keine Ahnung, ob der Mann irgendwann kommen würde. Vielleicht morgen oder in einer Stunde. Oder er würde überhaupt nicht mehr auftauchen. Auch diese Möglichkeit war gegeben. Aber Nakata war es gewöhnt, auf Undefinierbares zu warten und seine Zeit allein und unbeschäftigt zu verbringen. Zu warten bereitete ihm keinerlei Unbehagen.
    So wie auch die Zeit für ihn kein besonderes Problem darstellte. Er besaß nicht einmal eine Uhr. Er passte sich einfach ihrem Fluss an. Morgens wurde es hell und abends dunkel. Wenn es dunkel wurde, ging er ins benachbarte öffentliche Bad, und danach legte er sich schlafen. War das Bad an einem Tag geschlossen, ging er einfach wieder nach Hause. Wenn es Essenszeit wurde, bekam er von selber Hunger, und wenn der Tag kam, an dem er seine Unterstützung abholte (jemand sagte ihm freundlicherweise immer Bescheid, wenn er näherrückte), wusste er, dass ein Monat vergangen war. Am Tag danach ging er zu einem Friseur in der Nachbarschaft und ließ sich die Haare schneiden. Im Sommer erhielt er von der Gemeinde Aal und zu Neujahr Omochi – Klebreisküchlein.
    Nakata entspannte sich, schaltete sein Denken ab und ging sozusagen auf Warteposition. Für ihn war das ein vollkommen natürlicher Akt, der seit seiner Kindheit ganz alltäglich für ihn war und über den er nicht nachdachte. Bald begann er wie ein Schmetterling am Rande seines Bewusstseins umherzuflattern. Jenseits des Randes tat sich ein tiefer Abgrund auf. Zuweilen blickte er über den Rand und flog über den schwindelnden Abgrund, der Nakata jedoch mit seiner Dunkelheit und Tiefe nicht schreckte. Warum sollte er auch? Diese licht- und bodenlose Welt, das drückende Schweigen und das Chaos waren längst alte Bekannte und mittlerweile ein Teil von ihm, das begriff Nakata sehr gut. In dieser Welt gab es keine Schrift, keine Wochentage, keinen furchteinflößenden Gouverneur, weder Opern noch BMWs. Keine Scheren und hohen Hüte. Andererseits gab es auch keine Aale und keine Brötchen mit Bohnenmus. Dort war alles eins. Statt in Teile gespalten zu sein. Daher musste man auch nicht eins gegen das andere austauschen, etwas herausnehmen oder hinzufügen. Es genügte, ohne komplizierte Überlegungen in das Ganze einzutauchen. Dafür war Nakata sehr dankbar.
    Hin und wieder nickte er ein. Aber auch wenn er schlief, waren seine fünf Sinne mit scharfer Aufmerksamkeit auf das Gelände gerichtet. Hätte sich etwas geregt oder wäre jemand aufgetaucht, wäre Nakata sofort aufgewacht und in Aktion getreten. Graue Wolken bedeckten den Himmel wie ein glatter Teppich. Dennoch würde es vorläufig nicht anfangen zu regnen. Alle Katzen wussten das, und Nakata wusste es auch.

11
    Bis ich zu Ende erzählt habe, vergeht eine ganze Weile. Sakura sitzt, den Kopf in die Hände gestützt, am Küchentisch und hört mir aufmerksam zu. Ich bin erst fünfzehn und noch in der Mittelstufe, habe meinem Vater Geld gestohlen und bin aus meinem Zuhause im Tokyoter Stadtteil Nakano davongelaufen. Ich wohne in einem Hotel in Takamatsu und gehe jeden Tag in die Bibliothek, um zu lesen. Plötzlich bin ich, ohne zu wissen, wie es dazu gekommen ist, blutbeschmiert auf dem Gelände eines Schreins aufgewacht. So viel erzähle ich ihr. Natürlich sage ich ihr auch manches nicht. Die entscheidenden Dinge bringe ich nicht so einfach über die Lippen.
    »Deine Mutter ist also mit deiner Schwester fortgegangen, als du vier warst, und hat deinen Vater und dich verlassen.«
    Ich hole das Strandfoto aus meiner Brieftasche und zeige es ihr.
    »Das ist meine Schwester.« Nachdem Sakura es eine Weile betrachtet hat, gibt sie es mir wortlos zurück.
    »Danach habe ich meine Schwester nie mehr gesehen«, sage ich.
    »Meine Mutter auch nicht. Ich habe keine Verbindung zu ihnen; ich weiß nicht einmal, wo sie sind. Wie sie aussehen, weiß ich auch nicht mehr. Es gibt nur noch dieses eine Foto. Meine Erinnerung ist nur noch wie ein Hauch. Ich erinnere mich an ein Gefühl, aber an kein Gesicht.«
    »Hm«, seufzt Sakura und sieht mich, den Kopf weiter in die Hände gestützt, forschend an. »Das ist ziemlich schlimm.«
    »Wahrscheinlich.«
    Sie schweigt und schaut mich weiter an.
    »Und mit deinem Vater verstehst du dich nicht gut, oder?«, fragt sie dann.
    Nicht gut verstehen. Was soll ich darauf antworten? Wortlos schüttele ich den Kopf.
    »Ja, klar, sonst wärst du wohl nicht von zu Hause abgehauen«, sagt Sakura.

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