Kafka am Strand
überzeuge mich, dass kein Fitzelchen der nächtlichen Dunkelheit, die in der Hütte geherrscht hat, zurückgeblieben ist. Alles erstrahlt wie neu erschaffen in goldgelbem Glanz. Mit einem Streichholz zünde ich die Gasflamme an und erhitze Mineralwasser für eine Tasse Kamillentee. Aus der Tüte mit den Lebensmitteln nehme ich mir ein paar Kräcker und esse ein bisschen Käse dazu. Am Waschbecken putze ich mir die Zähne und wasche mir das Gesicht.
Ich ziehe Anorak und Regenjacke übereinander und trete vor die Hütte. Das Morgenlicht dringt durch die hohen Bäume bis auf den freien Platz vor der Veranda. Zwischen den Streifen von Licht schweben Schwaden morgendlichen Dunsts wie gerade erst geborene Geister. Beim ersten Einatmen überrascht die Reinheit der Luft meine Lungen. Auf den Stufen der Veranda sitzend, beobachtete ich, wie die Vögel zwischen den Bäumen hin- und herflitzen, und lausche ihren Stimmen. Die meisten sind Pärchen, die einander ständig im Auge behalten und etwas zurufen.
Der Bach fließt in einem Wäldchen ganz in der Nähe der Hütte.
Durch sein Murmeln finde ich ihn schnell. Ich komme an eine von Steinen umgebene Stelle, wo sich das Wasser staut und komplizierte Wirbel bildet, um dann wieder munter weiterzuschießen. Es ist schönes, klares Wasser. Ich schöpfe etwas davon und trinke. Es schmeckt kühl und süß. Eine Weile tauche ich beide Hände ins Wasser.
In der Pfanne brate ich mir Eier mit Speck, und auf dem Grillgitter toaste ich Brot. Ich erhitze mir Milch in der Kasserolle und trinke sie. Anschließend stelle ich einen Stuhl auf die Veranda. Ich will, beide Beine auf dem Geländer, den Morgen in aller Ruhe mit Lesen verbringen. In Oshimas Bücherregal stehen bestimmt über hundert Bände. Kaum Romane, nur einige sehr bekannte Klassiker. Der größte Teil der Bücher sind Werke über Philosophie, Soziologie, Geschichte, Psychologie, Geografie, Naturwissenschaften, Wirtschaft und so weiter. Vielleicht hat Oshima damit den Entschluss, seine mangelnde Schulbildung auszugleichen und die nötige Allgemeinbildung durch Lesen zu erwerben, in die Tat umgesetzt. Die Bücher decken die verschiedensten Wissensgebiete ab und haben keinen erkennbaren Schwerpunkt.
Ich wähle ein Buch, in dem der Prozess gegen Adolf Eichmann beschrieben wird. Vage erinnere ich mich, dass Eichmann ein Nazi-Kriegsverbrecher war, aber für dieses Thema habe ich mich nie sonderlich interessiert. Ich habe das Buch nur herausgenommen, weil es mir zufällig ins Auge fiel. Ich erfahre, dass der Obersturmbannführer der SS mit dem schütteren Haar und der Nickelbrille ein hervorragender Organisator war. Er beschäftigte sich konkret damit, wie die von der Naziführung schon bei Kriegsbeginn anvisierte Judenendlösung – sprich die Massenvernichtung von Menschen – zu bewerkstelligen sei, und arbeitete die Pläne dafür aus. Die Frage, ob sein Auftrag richtig oder nicht richtig sei, stellte sich ihm nicht. Er dachte nur daran, wie man die jüdische Bevölkerung in kürzester Zeit beseitigen konnte. Seiner Berechnung nach betrug die Zahl der europäischen Juden insgesamt elf Millionen. Er errechnete, wie viele Juden in einen Eisenbahnwaggon hineingingen, wie viele Waggons man demnach für ihren Abtransport brauchte und wie viel Prozent von ihnen während des Transports eines natürlichen Todes sterben würden. Wie die anfallenden Arbeiten mit der geringstmöglichen Anzahl von Menschen zu erledigen seien. Wie man sich am wirtschaftlichsten der Leichen entledigen konnte – verbrennen, vergraben, auflösen. All dies rechnete er gewissenhaft am Schreibtisch aus. Seine Pläne wurden in die Tat umgesetzt und funktionierten seinen Berechnungen entsprechend. Bis zum Ende des Krieges wurden etwa sechs Millionen Juden (über die Hälfte der beabsichtigten Zahl) nach seinen Plänen beseitigt. Dennoch empfand er nicht das geringste Schuldgefühl. Als Eichmann in Tel Aviv im Gerichtssaal auf der mit kugelsicherem Glas umgebenen Anklagebank saß, gab er sich erstaunt, dass ihm ein so großer Prozess gemacht wurde, der von der ganzen Welt mit Aufmerksamkeit verfolgt wurde. Als Technokrat habe er nur die möglichst effiziente Lösung einer ihm gestellten Aufgabe präsentiert. Ob das nicht alle guten Bürokraten auf der Welt genauso getan hätten? Warum verurteilte man ausgerechnet ihn dafür? Ich lese die Geschichte dieses »Organisators«, während ich in der morgendlichen Ruhe des Waldes dem Gesang der Vögel lausche. Auf den
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