Kafka am Strand
letzten Seiten des Buches hat Oshima eine Bleistiftnotiz hinterlassen. Ich erkenne seine Schrift. Sie ist sehr charakteristisch.
Alles ist eine Frage der Vorstellungskraft. Unsere Verantwortung beginnt in der Vorstellung. Yeats hat einmal geschrieben, ›In dreams begin responsiblities‹ – und genauso ist es. Umgekehrt kann kein Verantwortungsgefühl entstehen, wo es keine Fantasie gibt. Wie man an Eichmanns Beispiel sehen kann.
Ich stelle mir vor, wie Oshima mit einem spitzen Bleistift in der Hand auf diesem Stuhl sitzt und seine Bemerkungen in den Buchdeckel schreibt. Die Verantwortung beginnt im Traum. Die Worte finden Nachhall in meinem Herzen.
Ich schließe das Buch, lege es auf meine Knie und denke über meine eigene Verantwortung nach. Ich kann nicht anders. An meinem weißen Hemd hat frisches Blut geklebt. Ich habe versucht, es mit meinen Händen auszuwaschen. Das Blut hat das Waschbecken rot gefärbt. Vielleicht trage ich die Verantwortung für dieses vergossene Blut. Ich stelle mir vor, dass ich vor Gericht stehe. Menschen machen mir Vorwürfe und fordern Rechenschaft. Alle starren mich an und zeigen mit Fingern auf mich. Für etwas, an das ich mich nicht erinnern könne, trüge ich keine Verantwortung, wehre ich mich. Ich wisse ja nicht einmal, ob wirklich etwas passiert sei.
»Irgendjemand ist der eigentliche Urheber dieses Traums, aber du hast seinen Traum geteilt. Daher musst du für das, was in diesem Traum geschehen ist, Verantwortung übernehmen. Denn schließlich ist es dem Traum gelungen, sich über die dunklen Pfade in deiner Seele bei dir einzuschleichen.«
Wie auch Adolf Eichmann unweigerlich in Hitlers monströs verzerrte Traumwelt hineingezogen worden war.
Ich lege das Buch nieder, stehe auf und strecke mich. Nachdem ich so lange im Sitzen gelesen habe, muss ich mich bewegen. Ausgerüstet mit zwei Plastikkanistern mache ich mich auf den Weg zum Bach, um Wasser zu holen. Dann schleppe ich sie zur Hütte zurück und leere sie in den Wasserbehälter. Nach dem fünften Mal ist der Behälter einigermaßen voll. Aus dem Schuppen hinter der Hütte hole ich einen Arm voll Feuerholz und staple es neben dem Ofen.
In einer Ecke der Veranda ist eine ausgeblichene Nylonwäscheleine gespannt. Ich nehme meine feuchten Sachen aus dem Rucksack und hänge sie dort zum Trocknen auf. Den Rucksack räume ich vollständig aus und breite alles auf dem Bett aus, um es dem neuen Licht auszusetzen. Dann mache ich mich am Schreibtisch daran, meine versäumten Tagebuchaufzeichnungen nachzuholen. Mit einem feinen Filzstift notiere ich in allen Einzelheiten, was mir widerfahren ist. Ich rufe mir alles noch einmal genau ins Gedächtnis, um es möglichst detailgetreu niederzuschreiben. Man kann ja nie wissen, wie lange das Gedächtnis die wirkliche Form der Ereignisse bewahrt.
Also spüre ich meinen Erinnerungen nach. Ich lag bewusstlos in dem Wäldchen hinter dem Schrein, als ich zu mir kam. Es war dunkel, und an meinem T-Shirt war eine Menge Blut. Ich rief Sakura an, fuhr mit ihr in ihre Wohnung, und sie ließ mich dort übernachten. Wir redeten, und sie hatte es mir gemacht.
SIE LACHT AMÜSIERT. »VERSTEH ICH NICHT. SlCH ETWAS VORZUSTELLEN, NUR SO FÜR SICH UND STILLSCHWEIGEND, TUT DOCH KEINEM WEH. ICH WEISS DOCH EH NICHT, WAS DU DENKST.«
Nein, das stimmt nicht. Was ich mir vorstelle, kann unter Umständen von großer Bedeutung für die Welt sein.
Um die Mittagszeit gehe ich in den Wald. Oshima zufolge ist das ja nicht ungefährlich. »Bleib immer in Sichtweite der Hütte«, hat er mich gewarnt. Andererseits werde ich mehrere Tage hier allein verbringen. Anstatt also den Wald, der mich wie eine riesige Mauer umgibt, gar nicht zu kennen, werde ich mich sicherer fühlen, wenn ich mehr über ihn weiß. Ohne etwas mitzunehmen, lasse ich die sonnenbeschienene Lichtung hinter mir und tauche in das halbdunkle Meer der Bäume ein.
Ich folge einem einfachen Weg, der sich hauptsächlich nach den topographischen Gegebenheiten richtet, aber streckenweise über große, angelegte Trittsteine verfügt. An schwierigen Stellen hat jemand Stämme eingesetzt, und auch das dichte Unterholz ist weggehackt, sodass man den Weg gut erkennt. Wahrscheinlich nimmt sich Oshimas Bruder, wenn er herkommt, die Zeit, den Pfad zu pflegen. Ich arbeite mich voran. Der Weg führt bergauf, dann bergab, um große Felsen herum, und wieder bergauf. Überhaupt geht es meist aufwärts, aber richtig steil ist es nie. Zu beiden
Weitere Kostenlose Bücher