Kafka am Strand
Seiten ragen hohe Bäume mit dunklen Stämmen, kreuz und quer überhängenden Ästen und dichtem, ausladendem Blätterwerk auf. Am Boden wuchern Gestrüpp und Farne, die, so gut sie können, das spärliche Licht absorbieren. An Stellen, an die keine Sonne gelangt, überziehen stumme Moose die Oberfläche der Steine.
Der Pfad wird schmaler, wie eine Erzählung, die breit angelegt begonnen hat und dann immer dichter und verwickelter wird. Je weiter ich dem Pfad folge, desto mehr übernimmt das Gestrüpp die Herrschaft. Irgendwann endet der bearbeitete Teil, und es wird schwierig zu erkennen, ob es sich noch um einen echten Weg handelt oder um etwas, das nur so aussieht. Schließlich wird seine Spur völlig vom Meer der grünen Farne verschluckt. Vielleicht geht der Weg dahinter weiter, aber davon sollte ich mich wohl lieber erst beim nächsten Versuch überzeugen. Für eine weitergehende Erforschung des Waldes brauche ich Ausrüstung und andere Kleidung.
Ich bleibe stehen und wende mich um. Die Szenerie hinter mir ist mir völlig unvertraut. Nichts, das mir Mut machen könnte, ist in Sicht. Drohend verstellen mir die Reihen der Baumstämme den Blick. Es herrscht dämmriges Licht, und die Atmosphäre ist von schwerem Chlorophyll geschwängert. Kein Vogel singt. Plötzlich bekomme ich eine Gänsehaut, als hätte mich ein kühler Luftzug gestreift. Keine Angst, sage ich zu mir selbst. Der Weg ist da. Der Weg, den ich gekommen bin, existiert. Solange ich ihn nicht aus den Augen verliere, finde ich noch im Hellen zurück. Ich vergewissere mich des Pfades zu meinen Füßen und folge ihm konzentriert Schritt für Schritt. Für den Rückweg zur Hütte brauche ich viel länger als für den Hinweg. Heller frühsommerlicher Sonnenschein liegt auf der Lichtung, und die Vögel suchen unter lautem Gezwitscher nach Futter. Nichts hat sich verändert, seit ich fortgegangen bin. Scheinbar hat sich nichts verändert. Auf der Veranda steht der Stuhl, auf dem ich vorhin gesessen habe, und davor liegt umgedreht das Buch, in dem ich gelesen habe.
Nun spüre ich ganz deutlich, dass der Wald voller Gefahren ist. Das darfst du nicht vergessen, ermahne ich mich wieder selbst. Krähe hat Recht: Auf dieser Welt gibt es eine Menge Dinge, von denen ich keine Ahnung habe. Zum Beispiel habe ich nicht gewusst, dass Pflanzen so unheimlich sein können. Die einzigen Pflanzen, die ich bisher gesehen und berührt habe, sind sorgfältig gehegte und gepflegte Pflanzen in der Stadt gewesen. Aber diejenigen, die es hier gibt – nein, die hier leben – sind völlig anders. Sie haben physische Kraft, haben einen Atem, den sie gegen die Menschen ausstoßen, und scharfe Blicke, mit denen sie ihre Beute fixieren. Sie verfügen über uralte, dunkle Zauberkräfte. Der Wald ist ein Ort, an dem die Bäume herrschen – so wie die Lebewesen der Tiefsee über den Meeresgrund gebieten. Wenn er will, kann der Wald mich mit Leichtigkeit verschlucken oder ausspeien. Ich sollte vor diesen Bäumen so etwas wie Achtung und Ehrfurcht empfinden.
Ich hole meinen Kompass aus dem Rucksack in der Hütte. Nachdem ich den Deckel geöffnet und mich überzeugt habe, wo Norden ist, stecke ich das kleine Ding in die Tasche. Vielleicht wird er mir irgendwann noch gute Dienste leisten. Dann setze ich mich auf die Veranda und höre im Angesicht des Waldes auf meinem Discman Musik, Cream und Duke Ellington. Alte Titel, die ich mir aus der CD-Abteilung der Bibliothek kopiert habe. »Crossroads« höre ich mehrere Male. Die Musik mildert meine Aufregung. Doch allzu lange darf ich den Discman nicht anlassen, denn hier gibt es keinen Strom, sodass ich den Akku nicht aufladen kann. Ist er einmal leer, dann war’s das.
Vor dem Abendessen trainiere ich. Liegestützen, Situps, Squats, Kopfstand, alle möglichen Dehnübungen – ein Trainingsprogramm, mit dem man auf engem Raum und ohne Geräte und Einrichtungen die körperliche Leistungsfähigkeit erhalten kann. Die Übungen sind einfach und eintönig, aber so vermeide ich einen Mangel an Bewegung, und wenn ich sie ordentlich mache, sind sie wirksam. Ein Trainer hat sie mir beigebracht. »Das sind die einsamsten Übungen der Welt«, hat er mir erklärt. »Gefangene in Einzelhaft machen sie besonders gern.«
Konzentriert absolviere ich mehrere Runden, bis mein Hemd durchgeschwitzt ist.
Als ich nach einem simplen Abendessen auf die Veranda hinausgehe, funkeln über mir unzählige Sterne. Sie scheinen nicht fern am Himmel zu stehen,
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