Kafka am Strand
leer in die Flammen, von deren Anblick ich nie genug bekommen kann. Sie haben die verschiedensten Formen und Farben und bewegen sich frei und ungehindert wie Lebewesen. Sie werden geboren, vereinigen sich, trennen sich, sterben und verlöschen.
Wenn keine Wolken da sind, gehe ich ins Freie und schaue in den Himmel. Auch die Sterne geben mir nicht mehr dieses Gefühl von Ohnmacht. Mittlerweile empfinde ich sie als Vertraute. Jeder einzelne von ihnen strahlt anders. Ich habe mir ein paar gemerkt, um ihre individuelle Art zu scheinen zu beobachten. Manchmal funkelt ein Stern so stark, als sei ihm gerade etwas Wichtiges eingefallen. Der Mond scheint hell und bleich, und wenn ich genau hinsehe, kann ich einzelne Felsen unterscheiden. In dieser Zeit kann ich nichts denken. Nur mit angehaltenem Atem schauen.
Die Akkus von meinem Discman sind leer, aber keine Musik hören zu können macht mir weniger aus, als ich vermutet hätte. Andere Geräusche sind an ihre Stelle getreten. Das Gezwitscher der Vögel, das Zirpen verschiedener Insekten, das Murmeln des Baches, das Rauschen der Blätter im Wind, irgendein Getrappel auf dem Dach der Hütte und das Prasseln von Regentropfen. Hin und wieder dringen Laute an mein Ohr, die ich mir nicht zu erklären oder in Worte zu fassen vermag … Bisher ist mir nie bewusst gewesen, wie viele schöne, frische, natürliche Geräusche es auf der Erde gibt. Ich bin für diese wichtigen Dinge völlig blind und taub gewesen. Um das Versäumte nachzuholen, sitze ich lange mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem auf der Veranda und versuche, die einzelnen Laute zu unterscheiden.
Auch den Wald fürchte ich nun nicht mehr. Ich bringe ihm eine natürliche Achtung entgegen und verspüre inzwischen sogar eine gewisse Zuneigung zu ihm. Natürlich kann ich ihn nur im Umkreis der Hütte auf dem Weg betreten. Vom Weg abzuweichen gestatte ich mir nicht. Solange ich mich an diese Regel halte, besteht keine Gefahr. Der Wald akzeptiert mich schweigend. Oder er übersieht mich. Dennoch teilt er seine Schönheit und seinen Frieden mit mir. Würde ich freilich sein Gesetz brechen, würden mich gewiss die in der Stille lauernden Tiere mit ihren scharfen Klauen packen.
Immer wieder gehe ich den ausgekundschafteten Weg ab und sonne mich auf der kleinen runden Lichtung im Wald. Mit geschlossenen Lidern lausche ich dem Wind in den Bäumen und nehme den Sonnenschein in mich auf. Umgeben vom schweren Duft der Pflanzen lausche ich dem Flügelschlag der Vögel und dem Rascheln der Farne. Wie von aller Last befreit, hebe ich ein wenig vom Boden ab und schwebe. Dieser Zustand hält natürlich nicht lange an. Wenn ich die Augen öffne und den Wald verlasse, löst er sich auf. Er ist nur ein vorübergehendes Gefühl, aber dennoch eine überwältigende Erfahrung. Immerhin schwebe ich in der Luft.
Mehrmals regnet es heftig und hört immer gleich wieder auf. In den Bergen wechselt das Wetter schnell. Bei jedem Regen laufe ich nackt ins Freie und wasche mir den ganzen Körper mit Seife. Wenn ich von meinen Übungen verschwitzt bin, ziehe ich mich ganz aus und sonne mich nackt auf der Veranda, trinke jede Menge Tee und vertiefe mich in meine Lektüre. Nach Sonnenuntergang setze ich mich zum Lesen an den Ofen. Ich lese Bücher über Geschichte, Naturwissenschaften, Ethnologie, Mythologie, Soziologie, Psychologie, und ich lese Shakespeare. Ich lese die Bücher nicht von vorn bis hinten durch, sondern nur die Stellen, die mir bedeutsam erscheinen, und zwar mehrmals und so lange, bis ich sie verstehe. So habe ich das Gefühl, dass die verschiedenen Kenntnisse, die ich mir auf diese Weise aneigne, ihren Platz in meinem Kopf finden. Wie wunderbar es wäre, wenn ich für immer hier bleiben könnte. Im Regal stehen eine Menge Bücher, die ich lesen will, und Essensvorräte sind auch noch genügend übrig. Andererseits weiß ich selbst, dass mein Aufenthalt hier nicht mehr als eine Übergangslösung ist. Bald werde ich Abschied nehmen müssen. Es ist zu heiter, zu natürlich und zu vollkommen hier. Das ist mir jetzt noch nicht vergönnt. Es ist noch zu früh – wahrscheinlich.
Am Vormittag des vierten Tages kommt Oshima. Kein Motorgeräusch ist zu hören. Er kommt zu Fuß mit einem kleinen Rucksack auf dem Rücken den Weg hinauf. Ich sitze splitternackt auf der Veranda, ohne zu bemerken, wie seine Schritte sich nähern, denn ich bin in der Sonne eingedöst. Vielleicht hat er sich auch zum Spaß angeschlichen. Leise steigt er
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