Kafka am Strand
eine Verwechslung handelte, aber sie prügelten mit Eisenstangen und Latten auf ihn ein. Als er am Boden lag, traten sie ihn mit ihren Stiefeln. Er starb noch vor Tagesanbruch. Er hatte einen Schädelbruch, Rippenbrüche und einen Lungenriss. Den Leichnam warfen sie wie einen toten Hund auf die Straße. Zwei Tage später stürmte die Polizei im Einverständnis mit der Universität das Gelände, hob nach wenigen Stunden die Blockade auf und verhaftete einige Studenten wegen Mordverdachts. Die Beteiligten gaben das Verbrechen zu und wurden vor Gericht gestellt, worauf man zwei von ihnen, da sie nicht mit Vorsatz gehandelt hatten, wegen fahrlässiger Tötung zu einer kurzen Gefängnisstrafe verurteilte. Es war ein absolut sinnloser Tod.
Frau Saeki sang nie mehr. Schloss sich in ihrem Zimmer ein, sprach mit niemandem, ging nicht ans Telefon. Auch an der Beerdigung nahm sie nicht teil. Von der Musikhochschule ging sie ab. So vergingen mehrere Monate, und ehe man sich versah, war sie aus der Stadt verschwunden. Niemand wusste, wohin sie gegangen war und was sie machte. Auch ihre Eltern äußerten sich nicht dazu. Oder sie kannten ihren wahren Aufenthaltsort selbst nicht. Sie hatte sich wie Rauch in Luft aufgelöst. Nicht einmal ihre beste Freundin, Oshimas Mutter, hatte eine Spur von ihr. Einige sagten, sie habe in den Wäldern am Fuji einen Selbstmordversuch verübt und sei danach in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden. Oder Bekannte von Bekannten wollten ihr zufällig in Tokyo begegnet sein. Diesen Leuten zufolge ging sie in Tokyo einer schreibenden Tätigkeit nach. Außerdem wurde erzählt, sie habe geheiratet und ein Kind bekommen. Doch im Grunde waren das alles nur haltlose Gerüchte. Das Ganze hatte sich vor über zwanzig Jahren zugetragen.
Eins stand jedoch fest, wo immer Frau Saeki gewesen war und was sie auch gemacht hatte, Geldsorgen hatte sie bestimmt keine. Auf ihr Bankkonto flossen die Tantiemen von »Kafka am Strand«. Nach Abzug der Einkommensteuer blieb ihr eine ganz ordentliche Summe. Sooft ihr Lied im Radio gespielt oder auf CD aufgenommen wurde, erhielt sie einen nicht unerheblichen Betrag an Tantiemen. Davon konnte sie irgendwo weit fort ein ruhiges, unabhängiges Leben führen. Zudem stammt sie aus einem vermögenden Haus und ist die einzige Tochter.
Aber nach fünfundzwanzig Jahren kehrte Saeki-san plötzlich nach Takamatsu zurück. Der unmittelbare Grund für ihre Rückkehr war die Beerdigung ihrer Mutter. (Als fünf Jahre zuvor ihr Vater zu Grabe getragen wurde, war sie nicht erschienen.) Nachdem sie eine kleine Totenfeier ausgerichtet hatte, verkaufte sie als Erstes das große Haus, in dem sie aufgewachsen war. Dann kaufte sie sich in einer ruhigen Gegend von Takamatsu eine Wohnung, um sich dort niederzulassen. Sie schien auch nicht vorzuhaben, noch einmal umzuziehen. Kurze Zeit später kam es zu Verhandlungen mit der Familie Komura. (Das gegenwärtige Oberhaupt der Familie Komura ist der drei Jahre jüngere Bruder des verstorbenen ältesten Sohnes. Frau Saeki und er sprachen unter vier Augen miteinander. Über den Inhalt ihres Gesprächs wurde nichts bekannt). Das Ergebnis dieses Kontakts bestand jedenfalls darin, dass Frau Saeki die Verwaltung der Bibliothek übernahm.
Sie war noch immer schön und schlank und hatte sich fast die gleiche kultivierte Bescheidenheit wie auf dem Plattencover erhalten. Nur das vorbehaltlos offene Lächeln von damals hatte sie nicht mehr. Zuweilen lächelte sie auch jetzt noch. Es war ein bezauberndes Lächeln, aber ein zeitlich und räumlich begrenztes, umgeben von einer unsichtbaren Mauer. Ihr Lächeln führte nirgendwohin. Jeden Morgen fuhr sie mit ihrem grauen Golf aus der Stadt zur Bibliothek und dann wieder zurück.
Sie war zwar in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, pflegte aber kaum Kontakt zu Freunden oder Verwandten. Wenn sie sich zeigte, benahm sie sich höflich und normal. Die Themen jedoch, über die man sich mit ihr unterhalten konnte, waren sehr beschränkt. Kam jemand auf vergangene Ereignisse zu sprechen (besonders auf solche, die sie selbst betrafen), dann lenkte sie das Gespräch sofort und wie instinktiv in eine andere Richtung. Sie drückte sich zwar stets höflich und liebenswürdig aus, aber es fehlte ihr an aufrichtiger Anteilnahme und echtem Interesse. Ihre wahren Gefühle – falls es solche gab – hielt sie stets sorgfältig verborgen. Nur wenn man sie ausdrücklich um ihr Urteil bat, äußerte sie eine persönliche Meinung.
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