Kafka am Strand
Sie sagte nie viel, sondern ließ ihr Gegenüber reden und zeigte freundliche Zustimmung und Aufmerksamkeit. Es kam nicht selten vor, dass ihre Gesprächspartner an einem gewissen Punkt plötzlich eine vage Unsicherheit befiel – vergeudeten sie nicht nutzlos Saeki-sans Zeit und trampelten mit Schuhen in ihrer säuberlich geordneten Welt herum? Im Großen und Ganzen war dieser Eindruck durchaus richtig.
So war sie, auch wenn sie in ihre Heimatstadt zurückgekehrt war, für die Menschen dort weiterhin ein Rätsel. Auf ihre unübertrefflich vornehme Art blieb sie in den Schleier des Geheimnisses gehüllt. Unnahbar. Selbst die Komuras, die ja formell ihre Arbeitgeber sind, behandeln sie mit Hochachtung und mischen sich nie ein.
Bald darauf fing Oshima als ihre Hilfskraft in der Bibliothek an. Zu der Zeit ging er weder zur Schule noch arbeitete er, sondern las, zu Hause vergraben, viele Bücher und hörte Musik. Abgesehen von ein paar E-Mail-Bekannten hatte er kaum Freunde. Wegen seiner Hämophilie verließ er die Stadt nur, um einen Facharzt aufzusuchen, mit seinem Mazda-Roadster zu fahren, sich zu bestimmten Terminen in der Universitätsklinik von Hiroshima zu melden oder sich in die Berghütte in Kochi zurückzuziehen. Dennoch empfand er sein Leben nicht als unbefriedigend. Eines Tages stellte seine Mutter ihn zufällig Frau Saeki vor, und sie mochte ihn auf den ersten Blick. Auch Oshima fand Frau Saeki sympathisch, und es interessierte ihn, in der Bibliothek zu arbeiten. Oshima war anscheinend der Einzige, mit dem Frau Saeki täglich Umgang pflegte und sprach.
»Wenn ich Ihnen so zuhöre, kommt es mir so vor, als wäre Frau Saeki vielleicht mit dem Ziel zurückgekehrt, die Bibliothek zu verwalten«, sage ich.
»Ja, das könnte sein. Ich habe ungefähr die gleiche Vermutung. Die Beerdigung der Mutter war wohl kaum mehr als ein Vorwand. Sie brauchte sicher nur einen Grund, um in ihre Heimatstadt zurückzukehren, die für sie so voller Erinnerungen ist.«
»Warum hängt sie so an der Bibliothek?«
»Vor allem hat er dort gewohnt. Er – Saeki-sans verstorbener Geliebter – lebte in dem Gebäude, in dem jetzt die Komura-Bibliothek ist, also im Grunde zwischen den Bücherregalen. Als ältestem Sohn der Familie lag ihm die Liebe zu Büchern wohl im Blut. Und noch eine Eigenart haben die Komuras: Sie lieben die Einsamkeit. Als er an die Mittelschule kam, bestand er darauf, nicht mehr bei der Familie im Haupthaus zu wohnen, sondern wollte ein Zimmer für sich, separat, in der Bibliothek. Dieser Wunsch wurde ihm erfüllt. In einer Familie von Bücherfreunden verstand man ihn. ›Aha, er möchte mitten unter den Büchern leben. Das ist eine gute Sache‹, hieß es nur. Also war er ganz für sich, wurde von niemandem gestört und ging nur zu den Mahlzeiten ins Haupthaus. Frau Saeki hat ihn täglich in seinem Zimmer besucht. Die beiden lernten zusammen, hörten Musik und unterhielten sich endlos. Und wahrscheinlich schliefen sie zusammen. Die Bibliothek wurde für die beiden zum Paradies.«
Beide Hände auf dem Lenkrad schaut Oshima mich an. »Von nun an wirst du dort wohnen. In ebendiesem Zimmer. Wie gesagt, die meisten Räume in der Bibliothek wurden beim Umbau renoviert, aber in diesem Zimmer wurde nichts verändert.«
Ich schweige.
»Eigentlich ist Saeki-sans Leben stehen geblieben, als sie zwanzig war und ihr Freund starb. Nein, eigentlich nicht erst mit zwanzig, sondern vielleicht schon viel früher. Ich weiß es nicht. Aber du musst das verstehen. Der Zeiger der Uhr in ihrer Seele ist irgendwann davor oder danach stehen geblieben. Natürlich ist die äußere Zeit weitergeflossen und hat realen Einfluss auf sie genommen. Aber diese Zeit ist für Saeki-san fast ohne Bedeutung.«
»Ohne Bedeutung?«
Oshima nickt.
»Heißt das, Frau Saeki lebt in der Zeit, die stehen geblieben ist?«
»Genau. Aber ein lebender Leichnam ist sie dennoch nicht. Das wirst du auch merken, wenn du sie näher kennen lernst.«
Oshima streckt eine Hand aus und legt sie auf mein Knie. Es ist eine sehr spontane Geste.
»Mein lieber Kafka Tamura, es gibt Punkte, an denen wir unser Leben nicht mehr zurückdrehen können. Und es gibt, wenn auch selten, Punkte, an denen man nicht mehr weiter kann. Ist ein solcher Punkt erreicht, bleibt einem nichts anderes übrig, als alles – ob gut oder schlecht – schweigend hinzunehmen und auf diese Weise zu leben.«
Wir kommen an die Autobahnauffahrt. Oshima hält an, um das Verdeck zu schließen.
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