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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Oder falls er es wusste, konnte er es nicht ohne weiteres akzeptieren. Also ging er nach Tokyo. Wenn sie diesen Test bestanden, würde ihre Verbindung nur desto fester werden. Männer denken manchmal so.
    Mit neunzehn schrieb sie ein Gedicht, das sie vertonte und auf dem Klavier spielte. Die Melodie war melancholisch, unschuldig und besaß eine reine Schönheit. Der Text hingegen war voller Symbolik, meditativ, ja geradezu esoterisch. Andererseits wirkte er auch unverbraucht und frisch. Sowohl Text als Melodie waren, unnötig zu erwähnen, die Verdichtung ihrer Sehnsucht nach dem fernen Geliebten.
    Ein paar Mal sang sie das Lied vor Leuten. Eigentlich war sie zwar eher schüchtern, aber sie sang gern und hatte schon in der Schulzeit eine Folkloregruppe gegründet. Einer der Zuhörer war so begeistert, dass er eine Demo-Kassette anfertigte und sie an den ihm bekannten Chef einer Plattenfirma schickte. Dem gefiel das Lied auch ausnehmend gut, er lud Saeki-san nach Tokyo ein und ließ offiziell eine Aufnahme machen.
    So fuhr sie zum ersten Mal in ihrem Leben nach Tokyo, wo sie sich natürlich auch mit ihrem Freund traf. Zwischen den Aufnahmeterminen fanden sie sogar die Zeit, sich zu lieben, wie sie es immer taten. Die beiden verkehrten seit ihrem vierzehnten Lebensjahr täglich sexuell miteinander, hat meine Mutter gesagt. Beide waren frühreif und konnten – wie es bei frühreifen Menschen häufig vorkommt – nicht richtig älter werden. Sie blieben immer vierzehn oder fünfzehn. Sie hielten einander in den Armen und fanden darin die Bestätigung, wie sehr sie einander brauchten. Keiner von beiden fühlte sich zu anderen Partnern hingezogen. Auch wenn sie getrennt waren, gab es zwischen ihnen für andere keinen Platz. Ist eine so märchenhafte Liebesgeschichte nicht zum Einschlafen?«
    Ich schüttle den Kopf. »Ich habe das sichere Gefühl, dass es noch zu einer großen Wende kommt.«
    »Genau«, sagt Oshima. »Eine Geschichte entsteht erst durch einen großen Wendepunkt. Durch eine unerwartete Entwicklung. Das Glück hat nur ein Gesicht, aber das Unglück hat für jeden Menschen ein anderes. Wie Tolstoi gezeigt hat. Das Glück ist eine Allegorie, das Unglück eine Geschichte. Nun, die Platte wurde verkauft und ein Hit. Und kein gewöhnlicher Hit. Ein dramatischer Hit. Sie wurde – eine Million Mal, zwei Millionen Mal, ich weiß die genaue Zahl nicht – verkauft. Jedenfalls ein Rekord für die damalige Zeit. Auf dem Plattencover war ein Foto von ihr, auf dem sie im Aufnahmestudio am Flügel sitzt und in die Kamera lächelt.
    Da es kein weiteres Lied von ihr gab, bestand die B-Seite in einer Instrumentalversion des gleichen Liedes. Orchester mit Klavier, von ihr gespielt. Auch ein schönes Stück. Das war so um 1970. Der Titel wurde von allen Radiosendern gespielt, sagt meine Mutter. Ich war ja damals noch nicht auf der Welt. Doch die Karriere von Saeki-san als Sängerin war mit diesem einen Lied zu Ende. Eine LP kam nicht heraus und auch keine zweite Single.«
    »Habe ich das Lied vielleicht schon mal gehört?«
    »Hörst du öfter Radio?«
    Ich schüttle den Kopf, denn ich höre fast nie Radio.
    »Dann kennst du es wahrscheinlich nicht. Außer in Oldie-Sendungen hört man es heute kaum noch. Aber es ist ein hübsches Lied. Ich habe es auf einer CD und höre es ab und zu. Natürlich nur, wenn Saeki-san nicht da ist, denn die Erinnerung ist ihr zuwider. Eigentlich hasst sie jede Berührung mit der Vergangenheit.«
    »Wie heißt denn das Lied?«
    »›Kafka am Strand‹«, sagt Oshima.
    »›Kafka am Strand?‹«
    »Ja, mein lieber Kafka Tamura. Wie du. Eine seltsame Fügung, was?«
    »Das ist nicht mein richtiger Name. Nur Tamura stimmt.«
    »Hast du dir den selbst ausgesucht?«
    Ich nicke. Vor langer Zeit hatte ich beschlossen, mir mit der Wahl dieses Namens ein neues Ich zu schaffen.
    »Das ist die Hauptsache«, sagt Oshima.
     
    Mit zwanzig kam Frau Saekis Freund ums Leben. Genau in der Zeit, als ›Kafka am Strand‹ ein großer Hit war. Seine Uni wurde bestreikt, und um einen Freund, der dort übernachtete, mit Proviant zu versorgen, stieg er über die Barrikaden. Es war vor zehn Uhr abends. Die Studenten, die das Gebäude besetzt hielten, verwechselten ihn mit dem Anführer einer gegnerischen Gruppe (dem er ziemlich ähnlich sah) und nahmen ihn gefangen. Sie fesselten ihn an einen Stuhl und führten ein ›Verhör‹ durch, da sie ihn als Spion verdächtigten. Er versuchte, ihnen zu erklären, dass es sich um

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