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Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition)

Titel: Kafka: Die Jahre der Entscheidungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reiner Stach
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Herrn Direktor nicht anzutreffen, aber lieber langweilt er sich mit Brods Mutter, als zu Hause die festlich gestimmte Familie zu ertragen. Er findet keine Ruhe mehr, es ist, als dringe ein stetig anschwellender Lärm aus seinem Innern, seit Tagen schon bilden sich in ihm, kaum dass er sich zu Bett gelegt hat, Sätze eines imaginären Briefs, in immer neuen Anläufen, eines Briefs, der dieses elende Leben endlich von Grund auf verändern soll. Schließlich, am Freitag, dem 20.September 1912 – wenige Stunden vor Beginn des jüdischen Versöhnungstages Jom Kippur –, ist die Spannung nicht mehr zu ertragen, und das Imaginäre verdichtet sich wie traumwandlerisch zur Wirklichkeit, zum konkreten Entschluss. Nach den üblichen sechs Stunden Büroarbeit geht Kafka nicht nach Hause, sondern setzt sich an eine Schreibmaschine, legt ein Blatt Papier mit dem Briefkopf der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt ein (und zu diesem besonderen Anlass auch ein Blatt Durchschlagpapier) {107} und beginnt – die Maschine ist ihm ungewohnt – langsam zu tippen: »Sehr geehrtes Fräulein! Für den leicht möglichen Fall, dass Sie sich meiner auch im geringsten nicht mehr erinnern können, stelle ich mich noch einmal vor: Ich heisse Franz Kafka … «

{108} Ekstase des Anfangs:
DAS URTEIL und DER HEIZER
I go through all this before you wake up
Björk Guðmundsdóttir, HYPER-BALLAD
    Warum Felice Bauer? In der Kafka-Literatur gibt es vielfache und prominente Bemühungen, des Staunens Herr zu werden über diese unbegreifliche Entscheidung Kafkas und über die ebenso unbegreifliche Hartnäckigkeit, mit der er nahezu fünf Jahre lang an ihr festgehalten hat. Canetti, Deleuze und Guattari, Theweleit, Baumgart haben sich daran versucht. Man ist sich einig darin, dass Kafka diese Frau ›benutzt‹ hat, dass er ihre tatsächlichen Bedürfnisse und Wünsche ignoriert und ihr Funktionen aufgenötigt hat, die sie nur unter völliger Selbstverleugnung hätte erfüllen können. Von Kafkas Raffinesse ist die Rede, von seinem Taktieren, gar von ›Vampirismus‹. Gleichzeitig schwingt bei einigen dieser Autoren ein Ton des Bedauerns darüber mit, dass er sich ausgerechnet an dieser schlichten, ihm offenbar intellektuell nicht im mindesten gewachsenen Frau aufgerieben und damit den Weg zu einer reiferen, befriedigenderen Beziehung vielleicht für immer verbaut hat. Soll heißen: Er hat sich wahrhaft asozial verhalten, aber es hat sich für ihn nicht ausgezahlt, Vergehen und Gewinn standen in keinem rechten Verhältnis zueinander, und ein so luzider Geist hätte dies voraussehen müssen. Warum also dennoch Felice Bauer?
    Man kann den Abend des 13.August 1912 und das, was auf ihn folgte, nicht ›erklären‹. Denn eine Erklärung, die diesen Namen verdiente, setzte voraus, dass wir zumindest über die wesentlichen Faktoren der Situation im Bilde sind. Die erotische Objektwahl aber – und um eine solche handelte es sich doch zweifellos, was immer Kafka damit ›bezweckt‹ haben sollte – wird überwiegend von unbewussten Motiven gesteuert, die in den expliziten Äußerungen der Handelnden und erst recht in den Erinnerungen von Zeugen allenfalls in entstellter Form {109} aufscheinen. Und selbst wenn man diese psychoanalytische Doktrin in ihrer Allgemeinheit bestreiten wollte, dürfte es doch sehr schwer fallen, diese Objektwahl in all ihrer verstörenden Plötzlichkeit, Gewaltsamkeit und Zwanghaftigkeit als bewusste Entscheidung, als ›Wahl‹ im alltagssprachlichen Sinne plausibel zu machen.
    Man wird entgegnen, dass wir über Kafkas Unbewusstes wahrscheinlich besser orientiert sind als über das der meisten Menschen, die wir seit Jahren persönlich ›kennen‹. Das ist wahr, aber dieses Argument besagt lediglich, dass die körperliche Anwesenheit des Beobachters nicht ausschlaggebend sein kann, wenn es darum geht, Individuen und ihre sozialen Beziehungen zu verstehen (und das ist gut so, denn einen wie engen und zufälligen Horizont hätte sonst jedes Verstehen). Doch was wir über jenes Unbewusste wissen, entstammt nahezu ausschließlich der Selbsterforschung, die, wie wahrhaftig sie immer ist, den schmerzlichsten Wunden ausweichen muss, wenn sie nicht in Selbstauflösung enden soll. Freuds Selbstanalyse, die sich gegenüber derjenigen Kafkas merkwürdig harmlos ausnimmt, illustriert dies zur Genüge – obgleich es gerade Freud war, der dann entdeckte, dass die Wahl des Sexualpartners mit jenen schmerzhaftesten und daher verborgensten Punkten

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