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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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Mit klopfendem Herzen legte Amicia ihm die Hand auf die Schulter. »Komm mit mir«, sagte sie leise. »Du hast das Richtige getan. Ich will, dass du mir von dem weißen Bären erzählst.«
    Ein wenig unsicher tastete seine Hand nach der ihren. Als sie die seine umschloss, stand er auf.
    Die Burg war tatsächlich ein normannischer Bau. Sie hieß Tower of London, und der weiße Bär Canute war ein Geschenk irgendeines nordischen Königs an Edward I., lebte in der Menagerie des Towers und wurde zur Belustigung der Londoner in der Themse auf Fischfang geschickt. »Sie machen ihn zu ihrem Narren.« Matthews Stimme zitterte vor Ohnmacht und Zorn. »Und wenn er genug hat und ihrem Dreckspfuhl entfliehen will, jagen sie ihn mit Lanzenstichen wieder hinein. Seine Heimat, in der der Schnee immer weiß bleibt, sieht er niemals wieder. Ich kann ihm nichts anderes wünschen, als dass er nicht mehr lange lebt.«
    Amicia nahm seine Hände in ihre. In dieser Nacht, in der er sie seinen Schmerz teilen ließ, gab es keine Fremdheit mehr. Er hatte sie alle in das Gasthaus gebracht, in dem sie bleiben sollten, während er seine Belange mit dem Exchequer erledigte. Es war ohne Zweifel das beste Gasthaus, in dem sie bisher logiert hatten, nicht weit vom Fluss gelegen, aber dennoch sauber und – soweit Amicia feststellen konnte – frei von Ratten.
    Matthew hatte zwei Kammern gemietet, eine für die Männer und eine für Amicia und Magdalene, und für ihre Verpflegung in der Schankstube bezahlt, in der es nach reinlicher Küche und würzigen Gerichten roch. Amicia hatte nun auch begriffen, warum er beteuert hatte, sie sei hier sicher: Der Wirt, der Tom hieß und wie ein Preisringer aussah, hatte fünf Söhne, deren Körperbau dem seinen in nichts nachstand. Wer partout ein Mädchen überfallen wollte, hätte sich jedes andere eher ausgesucht als eines, das in Toms Gasthaus logierte.
    »Lasst euch von seinem Wein geben«, hatte Matthew nach ihrer Ankunft zu Hugh und Timothy gesagt. »Tom bezieht ihn aus dem Alpenland, aus dem seine Frau stammt. In ihm steckt die Kraft der himmelhohen Berge, der Erde zwischen dem Felsgestein und der Sonne auf den Hängen. Dir würde er auch gut bekommen, Mag.«
    »Aber gewiss doch«, mischte sich strahlend vor Stolz der muskelbepackte Wirt ein. »Sieht ja selbst aus wie eine kleine Alpenländerin, das Schätzchen.«
    Verwundert furchte Matthew die Brauen. »Damit habt Ihr recht, wisst Ihr das?«
    Tom lachte: »Und ob. Wenn ich mich mit etwas auskenne, dann mit alpenländischen Frauen.«
    Amicia verspürte eine Wärme, die mit dem flackernden Feuer nichts zu tun hatte. Einen Matthew, der betörende Dinge über Wein sagte und mit einem Gastwirt Freundlichkeiten tauschte, hatte sie noch nicht erlebt. Und um sie vollends zu überraschen, sagte er zuletzt: »Ich überlasse meine Schar Eurer Obhut, Tom. Morgen breche ich auf, und heute Abend will ich mit Mistress Amicia allein sein.«
    Der Wirt führte sie in eine fensterlose Kammer, in die nur ein einzelner Tisch passte. Er stellte ihnen einen großen Krug Wein und eine Schüssel mit in Ingwerrahm und Mandeln gekochten Batzen vom Kabeljau hin und überließ sie sich selbst. Amicia war froh, dass auch im weltlichen Leben an Freitagen Fisch serviert wurde, denn ihr Magen begehrte gegen den ungewohnten Fleischgenuss auf. Letzten Endes aber hätte der Wirt ihnen gesottene Sohlen vorsetzen können, denn das Essen, so verlockend es duftete, erkaltete unberührt.
    Nun saßen sie einander gegenüber und redeten. Amicia stellte Fragen über den Bären, die Stadt und den Tower, und Matthew gab Antwort, doch vor allem sahen sie einander an. Immer wieder musste sie ihre Hand an sein Gesicht legen, das Blessuren von den Schlägen davongetragen hatte, das sie aber nur umso schöner fand.
    Wieder griff er nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Dieser Kerl hat gesagt, ich gehörte nach St. Mary of Bethlehem …«
    »Was ist das?«
    Gallig lachte er auf. »Ein Hospiz für die, die ihren gottgegebenen Verstand verloren haben. Glaubst du, ich bin verrückt, Zaubermädchen?«
    »Nein«, erwiderte sie ehrlich. »Ich glaube, du erträgst es nicht, wenn Tiere leiden, und dafür habe ich dich lieb. Auch wenn ich nicht fassen kann, dass du vor dem Bären überhaupt keine Angst hattest.«
    Wenn er mit den kräftigen Schultern zuckte, war ihm anzusehen, wie jung er noch war. »Vielleicht habe ich so viel Angst vor Menschen, dass ich mir vor Tieren nicht auch noch welche leisten

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