Kains Erben
Bär war mit Fug und Recht gereizt, doch statt auf die Peiniger mochte er sich vor Wut und Schmerz auf Matthew stürzen. Zweifellos konnte er einen Menschen mit einem einzigen Prankenhieb töten.
In wilder Hast schob sie Leiber beiseite, ohne sich um die Stöße, Flüche und Püffe von allen Seiten zu scheren. Endlich brach sie durch die letzte der Reihen, und ihr Blick war wieder frei. Was sie von ihrem Platz bei den Häusern nicht hatte sehen können, erkannte sie jetzt: Der Bär war an den Seilen, die die Wachen hielten, gefesselt. Mit vereinten Kräften zerrten sie das sich bäumende, sich wehrende Tier zurück, andere hielten Matthew fest, der sich ebenso bäumte und wehrte. Einer schlug ihm die Faust ins Gesicht, ein anderer stieß ihm wieder und wieder den Schaft seiner Lanze in den Leib, bis er in die Knie ging.
»Matthew!« Amicia rannte den Hang hinunter. Nach wenigen Schritten glitt sie auf dem schlammigen Gefälle aus und rutschte in einem Hagel von Geröll in die Tiefe. Es tat höllisch weh, aber verletzt hatte sie sich offenbar nicht, denn auf der Sandbank war sie sofort in der Lage, sich aufzurappeln. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass es den Männern gelungen war, den Bären in den Käfig zu zerren und die Tür zu schließen. Das Tier stieß ein wütendes Grollen aus, und die Männer ächzten, während sie den Käfig zu einem breit gebauten Boot zogen, das in der Nähe vor Anker lag. Amicia stob auf die Wachen zu. Zwei hielten Matthew an den Schultern, ein Dritter hatte ihn am Haar gepackt. Die beiden Übrigen schlugen auf ihn ein.
»Lasst den Mann los!«, schrie Amicia. »Er ist ein Ritter des Königs, der Exchequer erwartet ihn und die Gelder, die er bringt.« Ob das so der Wahrheit entsprach, bezweifelte sie, aber es war ihr gleichgültig.
Wohl mehr aus Verblüffung denn aus Überzeugung ließen die Wachen von Matthew ab. Mit gestrafften Schultern blieb er auf den Knien liegen und sah keinen von ihnen an.
»Wenn er ein Ritter des Königs ist, weshalb sagt er uns dann nicht seinen Namen, Täubchen?«, fragte einer.
Ein Zweiter, dem eine Narbe das Gesicht entstellte, fiel ein: »Was hat er hier zu suchen, und warum verdirbt er uns den Spaß mit Canute? Weshalb ist er nicht in Wales, wo der König seine Leute braucht?«
Matthew schwieg weiter, und Amicia begriff innerhalb von zwei Herzschlägen, dass er auch nichts sagen würde. Starrsinnig, wie er war, würde er sich lieber abführen lassen, als mit den Schindern des weißen Bären zu sprechen. »Er ist Matthew de Camoys«, rief sie hastig und wies auf das Wappen auf Matthews Schwertscheide. »Und er hat des Königs Auftrag erfüllt, deshalb ist er hier.«
»Camoys!«, rief der Mann mit der Narbe und klopfte sich den Schenkel. »Von wegen Ritter des Königs – einmal Rebell, immer Rebell, was? Selbst wenn’s nur gegen ein paar harmlose Wärter der königlichen Menagerie geht.«
Matthews Kopf flog in die Höhe. Er öffnete den Mund, beherrschte sich aber im letzten Augenblick und presste die Lippen aufeinander. Der, der zuerst gesprochen hatte, ohrfeigte ihn.
Das Klatschen des Schlages traf Amicia ins Mark. »Dazu habt Ihr kein Recht!«, rief sie und kämpfte gegen Tränen des Zorns.
»Kein Recht?« Der Schläger lachte und wies mit der Lanze in Richtung des vergitterten Tores. »Soll ich dir sagen, wozu wir ein Recht haben, Täubchen? Dort drüben wird an unserem brandneuen Wassertor gleich das Fallgitter hochgezogen, damit unser Freund Canute wieder einfahren kann. Unser Freund Canute ist nämlich ein Ehrengast des Towers, und auf ihn wartet ein prächtiges Dinner, nachdem sein Fischfang so ungalant unterbrochen wurde. Deinen Kavalier hier können wir gern gleich mit verschiffen – nur wird er zum Dinner mit gesalzenen Backpfeifen vorliebnehmen müssen.«
»Lass gut sein.« Sein Gefährte mit der Narbe klopfte ihm auf den Arm. »Mir klebt die Zunge am Gaumen, und ich habe keine Lust, mir mit dem Heißsporn Ärger aufzuhalsen. Er mag der Neffe und Enkel von Verrätern sein, aber seine Sippe bleibt ein Teil von Englands edelstem Blut. Ihr könnt gehen, Camoys. Weshalb Ihr hier herumgewütet habt, will ich lieber nicht wissen, und Ihr tätet gut daran, Euch in Zukunft wie ein gesitteter Mensch zu betragen. Ansonsten landet Ihr nämlich wahrhaftig im Tower – oder noch besser: in St. Mary of Bethlehem!«
Die Umstehenden brachen in schallendes Gelächter aus. Matthew spuckte aus, machte aber weiterhin keine Anstalten, sich zu bewegen.
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