Kains Erben
kann«, sagte er, und sie bewunderte seinen Mut, mit dem er eingestehen konnte, dass er Angst hatte. Zugleich erschien ihr das, was er gesagt hatte, unendlich traurig.
»Willst du mir erzählen, warum du Angst vor Menschen hast, Matthew?«
»Ich glaube nicht.« Er stützte die Stirn in eine Hand, entblößte das Gelenk, das er sich wieder wundgekratzt hatte. »Wenn man die Sprache eines Tieres erlernt, kann man ihm deutlich machen, dass man ihm nichts Böses will, und wenn das Tier nicht krank ist, wird seine Angriffslust sich legen. Aber wer kann schon die Sprache der Menschen lernen, selbst wenn er das ganze Leben darauf verwendet? Und wenn er es könnte – glaubst du, eine Geste der Beruhigung würde die Angriffslust eines Menschen dämpfen? Würde sie sie nicht viel mehr anstacheln?«
Amicia hätte ihm gern widersprochen, ihm versichert, dass Menschen so übel nicht waren, aber schon der Ansatz versiegte ihr, weil etwas in ihr ihm recht gab. Sie streichelte noch einmal seine misshandelte Wange. »Das ist meine Sprache, die dir sagt, dass ich dir nichts Böses will«, sagte sie. »Ich werde es von jetzt an immer versuchen, wenn ich dich bis aufs Blut gereizt erlebe, und ich bin sicher: Du wirst mich nicht angreifen.«
Der Blick, den er ihr schenkte, war jeden Schmerz wert. Seine Augen hatten ihr vor Wochen noch Angst gemacht, aber jetzt hätte sie sie gern geküsst. »Willst du Fisch essen?«, fragte er. »Ich wollte mir Koriander und Eisenkraut einmischen, aber ich habe keinen Hunger, und ich glaube, das dumme Zeug hilft ohnehin nicht.«
»Wogegen soll es denn helfen?«, fragte Amicia, die Hunger hatte, aber nicht auf den Fisch.
»Gegen die Liebe«, sagte Matthew, ohne seinen Blick von ihrem zu lösen. »Gegen die Liebe von Männern, die Frauen zerstört.«
Sie stand auf, ging zu ihm und zog ihn an sich. »Nein, ich will keinen Fisch essen«, sagte sie. »Ich will, dass mich der schöne Mann, der mich mit Blicken toll macht, ohne Eisenkraut, Koriander und törichte Gedanken liebt.«
Er sagte nichts. Aber er gab sich ohne weiteren Widerstand geschlagen, zog sie in seine Arme und verschloss ihr die Lippen mit seinen. Sie verriegelten die Kammer und richteten sich ihr Lager im Stroh. Es war das erste Mal, dass sie einander an einem Ort liebten, an dem Wärme und Licht waren, so viel Wärme und Licht, dass sie weder Kleider noch Decken brauchten und einander ansehen konnten. Sie liebten sich in dieser Nacht etliche Male, und wenn sie zwischendurch sprechen mussten, blieb er in ihr, und sie hielt ihn in den Armen, damit zwischen Lieben und Sprechen kein Unterschied war.
Ich werde nie wieder einsam sein, dachte Amicia, ich werde mich nie wieder fürchten. Schon während der Gedanke ausklang, wusste sie, dass er nur für den Augenblick der Wahrheit entsprach. Das aber schmälerte seinen Wert um keine Unze.
Erst als sie eine Zeit lang liegenbleiben mussten, weil sie die Kräfte ihrer Körper vollkommen verausgabt hatten, tranken sie den Wein. Amicia erinnerte sich daran, was Matthew über ihn gesagt hatte. »Bist du im Alpenland gewesen?«, fragte sie. »Hast du die himmelhohen Berge gesehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich bin nur ein Aufschneider. Mir hat jemand davon erzählt, der dort war.«
»Aber du willst mir nicht sagen, wer?«
»Jemand, der tot ist.« Er stöhnte. »Amicia, ich weiß, du hast jedes Recht, Fragen zu stellen, und das, was die Männer gesagt haben, muss dich furchtbar verwirren …«
»Nicht allzu furchtbar«, erwiderte sie ruhig und streichelte seine Wange, wie sie es versprochen hatte. »Ja, ich wüsste gern alles von dir, aber ich werde dir keine Frage stellen, auf die du mir keine Antwort geben willst. Ich verlasse mich darauf, dass du mir sagst, was mich betrifft. Und ich hoffe, dass du mir eines Tages den Rest erzählst, weil du selbst es dir wünschst.«
»Deine Großzügigkeit ist atemberaubend«, sagte er. »Wie kannst du dich einem Menschen überlassen, von dem du nicht weißt, wer er ist?«
Ein wenig herb lachte Amicia auf. »Das tue ich doch schon mein ganzes Leben lang! Ich weiß nicht, wer ich bin, aber ich bin bisher mit mir ausgekommen, also wird es mich nicht umbringen, es mit dir genauso zu versuchen.«
»Und wenn es dich doch umbringt? Wenn das, was ich dir verschweige, unsäglich ist?«
»Die Gefahr muss ich auf mich nehmen«, erwiderte Amicia. »So wie du bei dem weißen Bären. Du hast dich entschieden zu vertrauen, und ich tue es dir nach.«
Er neigte
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