Kains Erben
jemanden, der an meiner Stelle mit dir geht.«
Mehr konnte er nicht sagen, und sie konnte ihm nicht antworten. Seine Zunge schob sich ihr zwischen die Lippen, und in ihrem Leib begann von Neuem der Ansturm, der Festungen niederriss. Es machte glücklich, über jede Sorge hinaus, und wenn es noch eine Frage gab, die sie sich stellte, dann diese: Wie kann der Mann in mir ein solches Erdbeben sein und sich gleichzeitig standhaft einbilden, dass er mich in ein zisterziensisches Kloster bringen wird?
Als sie erwachte, war er fort, hatte den Hund mitgenommen und ihr kein Zeichen hinterlassen. Neben ihr im Stroh lag der Bernstein mit der eingeschlossenen Spinne. Das lederne Band, an dem sie ihn getragen hatte, war in der Nacht zerrissen.
20
Z
um zweiten Mal in dieser Nacht musste Randulph die Kerze neu entzünden. An dem Gitter vor seinem Fenster rüttelte der Sturm, und der Luftzug, der durch die Ritzen drang, war stark genug, um die schwache Flamme auszublasen. Welche Früchte würde das Unwetter diesmal vernichten, wie viele freie Bauern um ihren kärglichen Ertrag bringen? Das Gerede von der Strafe Gottes war lauter geworden, inzwischen hatte Randulph auch hier, hinter den Mauern seines Klosters, ein Flüstern darüber gehört. Dennoch vermochte er immer noch nicht zu glauben, dass die Menschen einer Epoche mehr Strafe verdienten als die einer anderen. Genauso unverständlich war, weshalb der strafende Gott einer arglosen Sippe von Bauern das Dach über dem Kopf rauben sollte, während er bei ihm lediglich am Gitter des Fensters rüttelte und die Kerze ausblies.
Er hatte sich nach der Vesper in seine Zelle zurückgezogen, weil er erschöpft war und sich über einem Buch erfrischen wollte. Schlaf schien nur mehr eine dunkle Fortsetzung der nagenden Gedanken des Tages zu sein; über einer Schrift aber, über den bestechend klaren Gedanken eines großen Geistes, der die Feuerproben des Erdenlebens bereits bestanden hatte, fand er noch immer Stärkung und Beruhigung. Bernard de Clairvaux, der Strahlendste unter den Vordenkern des Ordens, war dafür natürlich die erste Wahl. In den dunkelsten Nächten las Randulph allerdings stattdessen in der Schrift eines italienischen Heiligen namens Francesco, der das irdische Leben nicht nur bestanden, sondern geliebt hatte. Der Mann, der Randulphs Kindheit begleitet hatte, hatte ihm den Text geschenkt, und er selbst hatte ihn einst für jemanden abgeschrieben:
Gelobt seist du, mein Herr, in all deinen Kreaturen.
Allen voran in unserem Bruder, der Sonne,
Die uns der Tag ist und durch die du uns das Licht schenkst.
Welche Kraft musste eine Seele haben, die zu solchem Lobgesang fähig war!
In dieser Nacht allerdings war Randulph selbst durch das Liebeslied des Francesco kein Trost vergönnt. Unter dem Grollen des Sturmes vernahm er galoppierenden Hufschlag. Zweifellos stand ihnen ein Besucher ins Haus, und zwar einer, der sich weder vom scheußlichen Wetter noch von der fortgeschrittenen Stunde abhalten ließ. Randulph versuchte nicht einmal, sich selbst zu täuschen. Wer so lange in der Stille lebte, las Geräusche wie die Schrift eines Heiligen. Ein Pferd, das unter einem Reiter ging, trat anders auf als eines, das ohne Eisen auf der Koppel umhersprang.
Besser, er ging selbst zum Torhaus, ehe Bruder Benedict, der dort Dienst versah, einen anderen weckte. Die Brüder brauchten das bisschen Erholung, bevor sie zur Vigil aus dem Schlaf gerissen wurden. Als er den Kreuzgang durchquerte, vernahm er hinter sich Schritte, drehte sich um und entdeckte Francis, den derselbe Gedanke getrieben haben musste. Sie nickten einander zu und gingen schweigend weiter.
Die Nacht gebärdete sich, als platze der Himmel. Aus Haaren und Kleidern triefend eilte ihnen Bruder Benedict vom Torhaus entgegen. »Ein Besucher, mein Vater«, meldete er wie nicht anders erwartet, fügte dann jedoch leiser hinzu: »Eine Dame.«
Das war ungewöhnlich, aber es kam vor. Die Dame mochte die Mutter oder Schwester eines Bruders sein, die die Vorschrift überging, Besuche zuvor zu vereinbaren. Sie konnte eine adlige Witwe sein, die einen Sohn oder Neffen als Novizen brachte. Nichts davon hatte Randulph in seiner Zeit erlebt, und er nahm nicht an, dass es ihm jetzt bevorstand. Etwas anderes war weit wahrscheinlicher. »Die Herrin von Carisbrooke?«, fragte er. Bruder Benedict nickte und schob sich zitternd unter das schützende Dach.
Randulph überlegte fieberhaft. Hätte das Wetter es erlaubt, wäre er zu ihr
Weitere Kostenlose Bücher