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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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irrwitzig es sein mochte – Amicia schien es dennoch Angst zu sein. Womöglich waren sie gar nicht so lange unterwegs gewesen, weil Hugh Zahnweh bekommen hatte und Magdalene beinahe gestorben war, sondern weil etwas in dieser Stadt Matthew dazu zwang, zurückzuschauen.
    Wie zufällig fiel ihr Blick auf den Schild, der an die Flanke von Matthews Pferd klopfte. Der Drache darauf sah aus, als speie er ihr sein Feuer entgegen. Glich Matthews Furcht vor der Stadt der ihren vor dem Drachen? Wusste auch er nicht, warum sein Herz raste und er einen Klumpen im Hals hatte?
    Kaum lag die Stadtmauer hinter ihnen, stürzte das Leben Londons über sie her. In den schmalen, sich windenden Gassen drängten sich Scharen von Menschen, Tieren und Gespannen, durch die sie sich mit Mühe ihre Schneise schlugen. Pfeifend hieb Matthew seine Peitsche durch die Luft, um das Volk aus dem Weg zu treiben, wenn es nicht ohnehin vor dem Knurren des Mastiffs floh.
    Amicia hatte das Gefühl, ergriffen und mitgerissen zu werden, ohne sich wehren zu können oder auch nur Halt zu finden. London hatte sie in den Klauen, ein London, das stank und brüllte, bebte und qualmte, trampelte, tobte und tanzte. Ein London, das Notdurft aus Fenstern kippte, lebende Hühner im Dutzend verkaufte, sich feilbot, sich prügelte, sich einschmeichelte und sich wieder entzog. Sie war sicher, ersticken zu müssen, weil die Menschenhorden ihr die Luft zum Atmen nahmen.
    Bald schlugen sie sich wieder in Richtung Fluss und nahmen dort eine Straße, die nicht weniger belebt, aber breiter war. Das Ufer entlang reihten sich Lagerhäuser, und auf dem Wasser tanzten die Segel so vieler Schiffe, als reihe sich dort eine eigene, zu Wasser gelassene Stadt. Es stank nach Fisch, und es wimmelte von Straßenverkäufern, die mit heiserem Gebrüll ihre billigen Austern und ihre in Portionen geschnittenen Flundern und Aale anpriesen. Über einem Feuer wärmte ein Greis gewürztes Ale, doch der Tag war zu mild, um ihm Kunden zu bescheren. Einzig Hugh blieb stehen und linste sehnsüchtig in den dreibeinigen Kocher. Diesmal jedoch ließ sich Matthew nicht erweichen und ritt weiter.
    Vermutlich nimmt er Hugh nicht einmal wahr, dachte Amicia. So wie er Magdalene, Timothy und ihr übliches Gezänk nicht wahrnimmt. Von mir ganz zu schweigen.
    Sie reckte den Kopf. Allem Anschein nach durchquerten sie der Länge nach die ganze Stadt und zogen der Burg entgegen, die am Flussufer aufragte. Die Menschenströme lichteten sich und erlaubten ihr einen Blick auf die Anlage. Nichts in der ganzen Stadt gefiel ihr besser. Es war eine normannische Festung, trutzig und elegant zugleich; der Donjon war mit vier stämmigen, dicht beieinanderstehenden Türmen versehen, die frisch geweißelt waren. Weiter hinten waren gewiss hundert Arbeiter damit beschäftigt, eine weitere Mauer um die Anlage zu ziehen und zugleich einen Burggraben auszuheben, wie es letzthin immer beliebter wurde.
    Woher weiß ich das?, durchfuhr es sie. Woher weiß ich, woran man normannische Festungen erkennt, dass Burgherren sich Gräben ziehen lassen und dass man Türme mit Sumpfkalk weißelt?
    Es gab eine Burg auf der Insel, die Festung von Carisbrooke, doch Amicia hatte sie nie besucht. Zumindest erinnere ich mich nicht, sie besucht zu haben, dachte sie gegen ihren Willen, und die vertraute Beklemmung beschlich sie. Just in diesem Moment sprang jedoch Matthew mit einem zornentbrannten Schrei vom Pferd.
    Amicia fuhr zusammen. Sie sah sich um, konnte aber nicht entdecken, was ihn in solche Wut versetzte. Hier draußen standen nur noch wenige verstreute Häuser, und am Flussufer, unweit der Burg, lag ein spärlich bewachsener Sandstreifen. Ein vergittertes Burgtor war geradewegs in den Fluss hineingebaut, und wer die Wellen nicht fürchtete, hätte bei Ebbe auf dem Streifen bis zum Tor gehen können. An dieser Stelle war der Streifen breit genug für die fünf rot gewandeten Gardisten, die die Lanzen vorreckten, als wollten sie das Wasser bewachen. Neben ihnen bewegten sich noch vier weitere, weniger auffällig gekleidete Männer, die lange Stangen schwangen und ins Wasser ragende Seile hielten. Für Angelschnüre waren die Seile jedoch zu dick; zudem wartete hinter den Männern ein vergitterter Karren. Auf der Böschung, oberhalb der Sandbank, drängten sich mindestens hundert Menschen, die unter Gejohle auf den Fluss hinausgafften.
    Matthew fluchte zum Gotterbarmen, warf Hugh Althaimenes’ Zügel zu und befahl dem Hund, sich

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