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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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niederzulegen. Dann stürmte er auf die Menge zu.
    »Was will denn der Herr?«, fragte Timothy verdutzt. »Und all die Leute – verschenkt da etwa einer Fisch?«
    »Nein, das ist es nicht.« Amicia hatte soeben entdeckt, was die Menschen auf der Böschung so faszinierte: In den Wellen des Flusses, dem man die Gezeiten des Meeres anmerkte, schwamm ein Monstrum.
    Randulph hatte ihr Ungeheuer, die das Meer bevölkerten, in Bestiarien gezeigt. Es gab schwarze und grüne, solche, die vielköpfigen Schlangen glichen, und andere wie der Drache auf Matthews Schild. Gewiss war es möglich, dass eine solche Bestie sich in einen Fluss verirrte, aber das Monstrum ähnelte keinem der Scheusale in den Bestiarien. Es hatte weder Schuppen noch Flügel oder Zacken und auch nur einen einzigen Kopf. Es zog geschmeidig durch die Wellen, tauchte ab und an unter und kurz darauf wieder auf. Einmal hielt es einen Fisch im Maul, den es sofort im Ganzen hinunterschluckte. Die Menge jubelte und klatschte Beifall.
    Auch Amicias Gefährten hatten den Grund für den Volksauflauf inzwischen entdeckt. »Ist das ein Blutschink?«, rief Magdalene entgeistert. »Aber das kann doch kein Blutschink sein – er ist ja nicht schwarz!«
    Das Monstrum war in der Tat weder schwarz noch grün, sondern hatte eine für ein Monstrum gänzlich undenkbare Farbe: Es war weiß.
    »Was ist denn ein Blutschink, Lenchen?«, fragte Timothy.
    »Ein Blutschink?« Magdalene kratzte sich am Kopf, als könnte sie die Antwort irgendwo unter ihrer Haube finden. »Ein böser Wasserdämon, der oben wie ein Bär und unten wie ein Mann aussieht und Menschen frisst«, sagte sie endlich. »Gesehen hab ich, glaube ich, noch keinen – aber jedes Kind weiß, dass er schwarz und rot ist, nicht weiß.«
    Zu Amicias Entsetzen bewegte sich das Untier oder der Wasserdämon jetzt geradewegs auf die Männer am Ufer zu. Dass er die Strömung gegen sich hatte, machte ihm nichts aus. Das Gejohle der Menge schwoll noch an – hofften die Gaffer etwa, dass die Bestie die Männer verschlang?
    Die, die vor dem Käfigwagen standen, versuchten, mit ihren Stangen das Ungeheuer in die Flucht zu schlagen, doch sie richteten noch weniger aus als der Fluss. Die Wachen mit den Lanzen sprangen ihnen zu Hilfe, aber das Monstrum schwamm unbeeindruckt weiter auf die Sandbank zu. Zur selben Zeit hatte sich Matthew durch die Menge gekämpft und begonnen, die Böschung hinunterzusteigen.
    »Mein Herr Matthew!«, schrie Magdalene und sprang von ihrem Karren. »Er glaubt, er kann den Blutschink zähmen wie den wilden Hund, aber der zerreißt ihn! Er zerreißt alle Menschen, an ihm läuft das Blut in Strömen herunter, deshalb ist er oben schwarz und unten rot!«
    »Hör endlich mit diesem Unsinn auf!«, fuhr Amicia das Mädchen an, sodass dieses vor Schreck verstummte. Sie hätte sich gerne entschuldigt, doch das Geschehen auf der Sandbank tilgte andere Gedanken. Nahezu gleichzeitig erreichten beide ihr Ziel – Matthew, der das letzte Stück sprang, und das Ungeheuer, das aus dem Wasser watete. Sofort erkannte Amicia, dass es in der Tat gefährlich, aber weder ein Monstrum noch ein Wasserdämon war. Es war ein Bär, allerdings nicht braun und viel größer, als sie sich einen Bären vorgestellt hatte. Etwas anderes erstaunte sie noch mehr: Der weiße Bär war wunderschön.
    Er schüttelte den mächtigen Leib, dass die Tropfen aus seinem Pelz wirbelten. Mit Stangen und Lanzen versuchten die Männer, ihn zurück ins Wasser zu treiben, doch der Bär stapfte ungerührt weiter auf sie zu. Einer der Wächter vollführte einen kecken Satz und rammte dem Tier die Lanzenspitze in die Lefze.
    Der Bär stieß ein markerschütterndes Gebrüll aus, und im Nu war Matthew bei dem Mann und schlug ihm die Lanze aus der Hand. Der Bär wandte den Kopf und brüllte weiter, wobei ihm blutiger Schaum von der Schnauze tropfte. Matthew wich dennoch keinen Schritt zurück, sondern blieb zwischen dem Tier und dessen Peinigern stehen.
    Selbst wenn es völlig verrückt war – Amicia verstand ihn. Wie auch immer der weiße Bär an diesen Ort gekommen war, er gehörte nicht hierher, und die, die ihn quälten, waren grausam und hatten keine Achtung vor der ungezähmten Kreatur. Amicias Verstand setzte aus. Blindlings rannte sie Matthew hinterher, auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie ihm helfen sollte.
    Während sie sich durch die Menge drängte, konnte sie nicht sehen, was unten auf der Sandbank geschah. Angst erfasste sie: Der

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