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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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getan.‹«
    Dass Amicia kein Bruder war, machte in seinen Augen keinen Unterschied. »Dass die Wege Gottes uns verschlungen erscheinen, bedeutet wohl kaum, dass wir ihnen nicht zu folgen haben.«
    Randulph hatte sich gewunden, aber er hatte Amicia mit ins Skriptorium genommen, um mit ihr Bücher zum Studium auszuwählen. Er hatte sie ins Infirmarium geführt, damit sie bei der Pflege der Kranken assistieren konnte. Ohnehin ließ sich nicht leugnen, dass er sie monatelang im Keller der Gästequartiere beherbergt hatte, dass er selbst hinuntergestiegen war, um sie zu versorgen, und dass er einmal, als die Angst ihr Herz zu sprengen drohte, eine Nacht bei ihr verbracht hatte, ihr zitternder Leib in seinen Armen, ihr Kopf an seine Brust gepresst.
    »Kommst du, Amsel?«
    »Ich kann den Kranken nicht allein lassen«, rief sie, bettete aber Sir Matthews verwundetes Bein auf das Lager und sprang auf.
    »Es wird nicht lange dauern«, erwiderte Randulph.
    Seufzend rieb Amicia sich die Hände trocken. »Du passt auf, hörst du?«, sagte sie zu dem Hund, der den Kopf von den Pfoten hob. Dann zog sie die Tür auf.
    Randulph erwartete sie in seinem vergilbten Habit und dem schwarzen Skapulier. Als Abt hätten ihm prächtigere Kleider zugestanden, sein Rang glich dem eines Gutsbesitzers von Adel, er aber schützte sich nicht einmal vor dem Regen. »Ich danke dir«, sagte er, drehte sich um und ging ihr voraus.
    Statt auf den Pförtner zu warten, schloss er selbst das Tor auf und trat ohne ein Wort zu Amicia in den Kreuzgang. In der Stille klang das Prasseln des Regens wie der friedvolle Herzschlag der klösterlichen Welt. Nicht selten hatte Amicia sich gewünscht, als Herr von Adel geboren und damit berechtigt zu sein, dem Orden beizutreten, hinter den Mauern von Quarr zu verschwinden und auf immer zu wissen, wohin sie gehörte. Zur Rechten kauerten in Bücher versunkene Mönche in den Nischen, und sie sehnte sich danach, einer der ihren zu sein. Nach links blickte sie nicht. Als Kind hatte sie sich einmal fast zu Tode erschrocken, als sie gesehen hatte, was dort im Innenhof stand.
    Randulph entnahm dem Armarium, einem begehbaren Wandschrank im östlichen Flügel, einen schweren Band und ging sogleich weiter. Leise zog er die Tür des Skriptoriums auf, vergewisserte sich, dass niemand bei der Arbeit saß, und winkte Amicia, ihm zu folgen.
    Amicia liebte die Schreibstube, in die durch hohe, verglaste Fenster mehr Licht fiel als in jeden anderen Raum. Auf mehreren Pulten lagen Schreibmaterialien und Manuskripte, an denen die Skriptoren ihre Arbeit fortsetzen würden, wann immer Gottesdienst und Gebet es erlaubten. Es duftete nach dem Harz der Dornrindentinte, nach Leder, Leim und Staub.
    »Setz dich«, sagte Randulph und wies Amicia ein unbenutztes Pult zu. Er selbst blieb vor einem anderen stehen und schlug das Buch auf, das er aus dem Armarium geholt hatte.
    Sie hätte gern Fragen gestellt, aber ihr war beigebracht worden, keinen der Brüder zum Sprechen zu veranlassen, wenn es nicht unumgänglich war. Abt Randulph ließ sie lange warten. Endlich räusperte er sich. »Wie geht es dem Ritter?«
    »Ihr hättet nach ihm sehen können«, erwiderte Amicia ein wenig spitz. »Seit er krank liegt, wart Ihr nicht einmal bei ihm.«
    »Ich weiß.« Randulph wandte den Blick nicht von dem Buch. »Ich brauche nicht dich, um mir das vorzuwerfen.«
    »Es war nicht meine Absicht, Euch etwas vorzuwerfen.«
    »Doch, das war es«, sagte Randulph. Er beugte sich über eine Illustration des Buches. »Verdenken kann ich es dir nicht, aber ich lege schließlich nicht vor dir die Beichte ab.«
    »Natürlich nicht«, fuhr Amicia verblüfft auf. »Weshalb solltet Ihr das tun?«
    »Stell mir keine Fragen«, sagte er. »Gib mir Antwort. Es geht ihm besser, nicht wahr? Er wird leben?«
    »Das weiß allein Gott«, erwiderte Amicia. »Doch wenn Ihr mich nach meiner Einschätzung fragt – ich denke, er wird den Winter über brauchen, um zu gesunden, er hat ein Auge verloren und wird vielleicht nicht mehr kämpfen können. Aber ja. Leben wird er.«
    »Die Wunden …«, begann Randulph, versank noch einmal in der schillernden Buchmalerei und setzte dann neu an: »Du hast bereits Männer gepflegt, die unter die Räuber gefallen waren. Wenn du die Wunden betrachtest – glaubst du, Matthew de Camoys ist dasselbe widerfahren?«
    Amicia zögerte. »Nein, Vater«, sagte sie schließlich.
    »Was glaubst du dann?«
    »Ich glaube, wer immer das getan hat, wollte ihn

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