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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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Todesnähe hinauszulassen, krümmte er leicht den Rücken, als spüre er den frischen Wind.
    Magdalene, die sonst beim ersten Hahnenschrei erwachte, schlief tief in den Tag. Spürte sie, dass der Hund da war und auf den Mann, den sie liebte, achtgab?
    Amicia genoss die Stille, die ihr gefehlt hatte. Sie kochte Zwiebeln, bereitete frische Verbände, und als sie sich damit ans Lager des Ritters setzte, rückte der Hund zur Seite. »Du weißt, dass ich ihm nicht schade«, sagte sie. »Du bist so klug, Hund. So klug sind wir Menschen nie – wem wir vertrauen dürfen und wem nicht, das wissen wir nicht.«
    Sie lud sich das Bein des Mannes auf die Knie und begann, den Wadenmuskel mit den Leinenbinden zu umwickeln. Sie hatte Beine verarztet, die dürr wie Zweige waren, bedeckt von bleicher, rauer, blätternder Haut. Dieses jedoch lag schwer in ihrem Schoß; das Fleisch des Muskels war fest, von Sehnen durchzogen, und die Haut darüber honiggolden. Entsetzt bemerkte sie, dass sie nicht mehr die Binden wickelte, sondern mit den Fingerspitzen den Muskel streichelte. Und dann bemerkte sie noch etwas und konnte es nicht glauben, strich wieder und wieder über das versehrte Bein, um sich zu versichern: Die Haut glühte noch. Aber sie war nicht mehr so heiß wie am vergangenen Abend. Wenn der Mann nicht gerade starb, bedeutete das, dass das Fieber sank. Und dass er nicht starb, verriet ihr sein Atem, den sie in ihrem Rücken spürte, obwohl sie kein Rasseln hörte.
    Gegen Mittag wachte Magdalene auf und brach in Jubel aus, als sie den Hund entdeckte: »Ach Amsel, du weißt ja nicht, wie ich mich geschämt habe, weil ich erlaubt habe, dass sie den Namenlosen wegtreiben! Mein Herr Matthew hätte mich dafür gehasst – aber jetzt hat er seinen Namenlosen bei sich, und es wird alles gut.«
    Das Mädchen brauchte dringend Luft, und Amicia schickte es mit den Schweinehirten in den Wald. Als Magdalene sich sträubte, sagte sie: »Wenn du es nicht tust, muss ich selbst gehen. Willst du das, oder soll ich bleiben und deinen Herrn Matthew pflegen?«
    Das trieb sie auf den Weg, und den Stummen, der im Verschlag hauste, nahm sie mit. So blieben Amicia und der Hund mit dem Verwundeten allein. Sie nutzte die Zeit, um Markknochen auszukochen, und ab und an drehte sie sich um und sah den beiden beim Schlafen zu. Zwei schöne, gefährliche Geschöpfe, die in völligem Frieden beieinanderlagen – hatte das nicht etwas vom Paradies? Sachter Regen pochte aufs Dach und machte die Wärme und Trockenheit des Hauses umso wohliger.
    Als Amicia die Verbände wechselte, war das Fieber weiter gesunken. Die Schenkelwunde nässte, aber in der austretenden Flüssigkeit war kaum noch Blut. Prüfend betrachtete Amicia das Gesicht des Mannes. Der Schmerz grub ihm tiefe Falten in die Züge, prägte es noch immer, doch die Kiefer waren nicht mehr verkrampft. Auch die blau schillernde Schwellung, die das rechte Auge verdeckte, ging zurück. Das Auge darunter war ohne Zweifel zerstört. Bisher hatte Amicia angenommen, Matthew de Camoys würde das Auge ohnehin nicht mehr brauchen, jetzt aber musste sie daran denken, wie hart es ihn treffen würde. Er wäre entstellt, und der Verlust des Auges würde seinen Wert als Kämpfer mindern.
    Vielleicht lehrt es ihn Demut, durchfuhr es sie.
    Es klopfte an der Tür.
    »Herein«, rief Amicia in der Annahme, Magdalene käme zurück. Die Tür aber blieb geschlossen.
    »Bitte komm nach draußen, Amsel«, vernahm sie Randulphs Stimme durch das Holz.
    Was wollte er? Sich nach dem Befinden seines Gastes erkundigen? »Tretet ein«, forderte sie ihn auf, doch nichts rührte sich.
    »Ich ziehe es vor, im Skriptorium mit dir zu sprechen«, sagte Randulph.
    Zum Skriptorium, dem Schreibsaal des Klosters, hatten selbst die Laienbrüder nur selten Zutritt. Frauen waren in der Zisterzienserabtei überhaupt verboten, doch für Amicia hatte es im Laufe der Jahre immer wieder Ausnahmen gegeben. Wie schwer Randulph dies gefallen war, wusste sie. Der Orden der Zisterzienser war gegründet worden, um dem Verfall des mönchischen Gedankens ein Leben in Strenge und Treue entgegenzusetzen. Jeder Verstoß gegen die Regel des heiligen Benedikt entfernte den Abt von seinem Lebensziel – der Nähe zu Gott. Francis, sein Prior, aber hatte immer wieder dagegengehalten, die Sorge für den Nächsten müsse über jeder anderen Regel stehen. »Der Herr hat es uns so geboten, oder nicht? ›Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir

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