Kains Erben
Infirmarium sei kein Platz, hatte er behauptet, und sie habe schließlich schon Kranke in ihrem Haus gepflegt. Er werde den Prior schicken, um Matthew de Camoys die Beichte abzunehmen und ihn mit der heiligen Kommunion zu versehen.
Amicia hätte auch jetzt um ein Haar gelacht. Der Verletzte war so schwach, dass er die Lippen nicht einmal auseinanderbrachte, um eine Kelle Brühe zu leeren. Er brauchte die Sterbesakramente, zur Beichte war er nicht mehr in der Lage. Das hatte Randulph inzwischen offenbar selbst erkannt, denn er hatte bislang weder den Prior noch Bruder Edmund geschickt, der in der Heilkunst ausgebildet war und dem Infirmarium vorstand. Es gab ja keine Heilung. Sir Matthew hatte einundzwanzig tiefe Wunden davongetragen, dazu unzählige Blessuren von Schlägen. Er lag seit fünf Tagen in seinem Blut, das sich nicht stillen ließ, und wenn er noch nicht tot war, dann nur, weil es dem Leben leidtat, aus einem Körper zu fliehen, der so sehr für es geschaffen war.
Ein Heilkundiger hätte nichts tun können, was Amicia nicht auch konnte: ihn pflegen, »als wäre er wirklich Christus«, wie es der heilige Benedikt vorschrieb. Die Wunden mit Wallwurz waschen, sie mit Honig und einer Tinktur aus Ringelblumen bestreichen und beten, dass die Mischung die Blutungen zum Stehen brachte. In Öl gekochtes Geißblatt auflegen und Sud aus Weidenrinde und bitterem Wermutkraut in die Mundwinkel träufeln, um das Fieber zu senken und – so Gott wollte – die höllischen Schmerzen zu lindern. Die Stirn mit Wasser kühlen, die Fesseln mit in Zwiebelsaft getränkten Binden umwickeln. Mehr ließ sich nicht tun. Nur stumm dabeisitzen, wie die kleine Magdalene es tat, und trauern, weil ein Mensch so qualvoll sterben musste.
Die verheerendste Wunde war zweifellos die, die quer über der Brust verlief und die Lunge verletzt hatte. Die tiefste aber, die unstillbar blutete, klaffte vom rechten Knie den Muskel des Schenkels hinauf bis in die Leiste.
Amicia war nicht zimperlich, und Matthew de Camoys war nicht der erste entblößte Verwundete, den sie behandelte. Aber er war jung. Und sosehr Magdalenes Schwärmerei sie befremdete – etwas an dem geschundenen Leib war wahrhaftig schön, als hätte der allmächtige Gott ihn mit einem zärtlichen Lächeln modelliert. Während Amicia ihm frische Verbände auflegte, war ihr einmal die Kehle so eng geworden, dass sie hinaus ins Freie laufen musste, um Luft zu schöpfen, als sei sie meilenweit gerannt. Als ihr Atem endlich wieder ruhig gegangen war und sie in die Hütte zurückkehrte, hatte sie bemerkt, dass ihr die Tränen liefen.
Der Hund winselte. Ein Windstoß fuhr Amicia in den Nacken und brachte die Kälte zurück. Sie versuchte, sich enger an das Tier zu drängen, und entdeckte, dass ihre Glieder sich so steif anfühlten wie Stöcke, die sich mit den Händen brechen ließen. »Gehen wir ins Warme, Hund?« Mühsam stemmte sie sich in die Höhe. Sogleich sprang der Hund auf und wedelte mit dem Schwanz.
Sie musste lachen. »Sehr warm ist es drinnen auch nicht, aber ich mag ohnehin nicht mehr schlafen und kann genauso gut Feuer schüren. Außerdem ist es dir gleichgültig, was? Wenn du nur deinen Herrn bei dir hast, stört dich die Kälte nicht.«
Der Hund folgte ihr auf den Fersen ins Haus. Jäh fiel ihr auf, wie wundervoll es war, aus Nacht und Wind in ein Haus zu kommen, in dem ein Stapel Feuerholz bereitlag und in dem Menschen unbehelligt schliefen. Der Mann lebte noch. Seine Atemzüge rasselten, sooft die verletzte Lunge sich blähte.
»Hast du Hunger?«, flüsterte Amicia dem Hund zu, nahm kurzerhand den Napf, aus dem sie morgens ihre Hafergrütze aß, und schüttete Milch aus dem Krug für den Kranken hinein.
Der Hund hatte sich neben das Lager seines Herrn gedrängt und leckte ihm die Hand. Amicia stellte ihm die Milch hin, doch er leckte noch eine Weile weiter, ehe er den Napf in Windeseile leerte.
Amicia schenkte ihm noch etwas ein und verfütterte nach und nach alle Milch. Gewiss hätte Abt Randulph es für Sünde erklärt, das, was Menschen zugedacht war, an Tiere zu verschwenden, aber in dieser Nacht stand der Hund ihr näher als jeder Mensch. Er blieb mit ihr wach, derweil sie das Feuer schürte, und wenn der Tod hatte kommen wollen, schlug ihn vermutlich eher der riesenhafte Mastiff in die Flucht als die kleine Magdalene.
In jedem Fall war Matthew de Camoys bei Sonnenaufgang noch am Leben, und als Amicia den Fensterladen aufstieß, um den Geruch der
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