Kains Erben
hier nicht weg«, schluchzte Gideon auf. »Ich lasse meine Familie nicht vertreiben.« Über seine Stirn lief Blut in einem dünnen Rinnsal.
»Doch, das tust du«, sagte Deborah. Sie stand vom Tisch auf, kam zu Vyves und stellte sich hinter ihn. In seinem Nacken spürte er ihre kühlen Hände, die ihm den schmerzenden Muskel streichelten. »Vyves hat dir gerade das Leben erkauft, also wirf es gefälligst nicht weg, und bring uns nicht alle in Gefahr.«
»Aber wo sollen wir denn hin?«, brach es aus Gideon heraus. »Unsere Eltern und Großeltern haben darum gekämpft, in dieser Stadt begraben zu werden.«
»Die haben es hinter sich«, erwiderte Deborah ruhig. »Wir leben noch.« Sie streichelte Vyves die Schulter, bis die Starre sich löste. Nur noch sachte zitternd stand er auf.
5
W
ieder riss ein Geräusch in tiefster Nacht Amicia aus dem Schlaf, doch war es diesmal ein leises. Wie üblich saß sie kerzengerade auf dem Bett und presste die Hände auf die Brust, um ihr rasendes Herz zu beschwichtigen. Sie zwinkerte, um ihre Augen ans Dunkel zu gewöhnen, doch dann bemerkte sie, dass es gar nicht dunkel war. Magdalene hatte die Kerze brennen lassen, obwohl Amicia es ihr hundertmal verboten hatte. Der Ruß eines Talglichts mochte der verletzten Lunge des Ritters schaden, und das kostbare Wachs, das Quarrs Bienen lieferten, war für die Kerzen der Messe bestimmt, hatte Amicia ihr erklärt. Aber das Mädchen war toll vor Angst, im Dunkeln könne der Tod ins Haus kriechen und ihrem Herrn Matthew das Lebenslicht ausblasen.
Arme Kleine. Der Tod würde bei Licht oder im Dunkeln kommen, wann immer es ihm passte, und da der Verletzte bereits den fünften Tag im Fieber lag, würde er nicht mehr lange auf sich warten lassen. Magdalene weigerte sich jedoch, es zu glauben. Sie schlief zusammengerollt an den Füßen ihres Herrn, als ließe der Tod sich von einer rührenden Hüterin zur Umkehr bewegen.
Amicia schlang sich ihr Wolltuch um die Schultern und stand auf. Das Geräusch, das sie geweckt hatte, kam von draußen. Kein Heulen diesmal. Nur ein Winseln. Im Vorbeigehen lauschte sie auf die gequälten Atemzüge des Ritters und zog eine der Decken, die Magdalene über ihn gehäuft hatte, auf den schlafenden Körper des Mädchens hinunter. Wärme war es nicht, was ihm fehlte – im Gegenteil, die Hitze, die in seinem Körper tobte, brannte ihn von innen aus.
Vor der Schwelle lag der Hund im Gras, der graue Mastiff. Laienbrüder hatten das Tier mit Stangen und Mistgabeln in den Wald zurückgescheucht, nachdem es sich von Magdalenes Gürtelstrick losgerissen hatte und den Männern gefolgt war, die den Ritter in Amicias Hütte schleppten. Jetzt lag es vor ihr und blickte zu ihr auf. Dem mächtigen Brustkorb entrang sich ein winziger, beinahe bittender Laut.
Auf einmal erschien es Amicia undenkbar, dass sie Angst vor ihm gehabt hatte. Vor ihr lag keine reißende Bestie, sondern eine Kreatur, die sich vermutlich nicht weniger einsam und verfroren fühlte als sie selbst. Sie kniete nieder und begann, ihm den Hals zu streicheln, wie sie es bei Matthew de Camoys gesehen hatte. Unter dem glatten Fell fühlte sie sein Blut pochen. »Du armer Bursche«, murmelte sie an seinem Ohr. »Haben wir dir deinen Herrn weggenommen, und du irrst herum und weißt nicht, wohin wir ihn gebracht haben?«
Der Hund wandte leicht den Kopf, als wolle er sie ansehen. Amicia blickte ihm dennoch nicht in die Augen. Sie hatte dies von Bruder Timothy gelernt: Tiere mochten es nicht, wenn man ihnen ohne Scham in die Augen starrte. Amicia war es recht so, denn sie mochte es auch nicht.
»Willst du ihn sehen, Hund? Bist du gekommen, um bei ihm zu sein, wenn er stirbt? Das ist seltsam. Dein Herr ist ein übler Geselle, er hat im Grunde kein Quäntchen Zuneigung verdient. Aber da bist du, und da ist das zerrupfte Elfenwesen, ihr liegt ihm zu Füßen, und vermutlich geht ihr beide ein, sobald er den letzten Atemzug tut. Was hat er an sich, Hund? Womit gewinnt er eure Liebe? Ich habe Angst vor ihm. Er liegt im Sterben und ist mir ausgeliefert, aber mir macht er dennoch Angst. Ist das nicht verrückt?«
Der Hund drehte den Kopf noch weiter und begann mit seiner riesigen Zunge, Amicia das Handgelenk zu lecken. Sie schmiegte sich an seinen Leib und spürte sogleich die Kälte nicht mehr so scharf. Wenn sie hier einschlief, erfror sie, das wusste sie. Aber eine kleine Weile lang tat es gut.
Randulph hatte darauf bestanden, den Ritter in ihre Hütte zu bringen. Im
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