Kains Erben
Schläfen. Sie verlor das Gleichgewicht, taumelte und griff nach Halt. Dass Randulph, den sie zu fassen hoffte, ihr auswich, bemerkte sie erst, als sie mit Hüfte und Schulter auf den Boden prallte. Auf ihren Wangen glaubte sie Sackleinen zu spüren. Funken blitzten um kleine Drachen, die Feuer spien, und ein markerschütternder Schrei zerriss die Luft. Dann wurde das Bild vor ihren Augen schwarz.
»Du hast gesagt, du erinnerst dich nicht.«
Als sie zu sich kam, lag sie rücklings auf den Steinplatten. Ihr war übel, die Decke des Raumes drehte sich, und ihre Hand hielt wie so oft den Stein umklammert, den sie an einem Band um den Hals trug. Randulph hatte ihr ein Kissen in den Nacken geschoben, doch er kniete im Abstand zu ihr und berührte sie nicht. Amicia begriff, dass sie vielleicht keine Gelegenheit mehr bekommen würde, ihn zu sprechen. Sie nahm ihren Mut zusammen. »Doch«, sagte sie, »ich glaube, ich könnte mich erinnern. Ich habe nur Angst, ich halte es nicht aus.«
Randulph nickte. »Die Angst ist berechtigt. Ich will, dass du nach Fountains Abbey gehst und von dort in eine Gemeinschaft von Schwestern, damit du auf immer vergessen kannst.«
Vergessen, dachte Amicia bitter. Laut, wenn auch mit krächzender Stimme, entfuhr ihr: »Soll ich auf immer vergessen, wer ich bin?«
In dem Blick, der sie traf, lag etwas, das sie nicht zu deuten wusste. »Ja, Amsel«, sagte Randulph leise. »Ich bete zu Gott, dass er dir diese Gnade gewährt.«
»Aber warum denn? Bin ich ein Ungeheuer, ist meine Herkunft so verrucht, dass ich das Wissen darum nicht ertragen könnte?«
Randulph streckte den Arm aus und berührte ihr Haar. Von seiner Schulter hinunter lief ein Beben über die knotigen Adern des Handrückens bis in die Spitzen der Finger. Sogleich riss er die Hand zurück, als hätte Amicias Haar ihm die Haut verbrannt. Amicia hatte die Berührung dennoch gespürt. Die kleine Spur Wärme, die er ihr sofort wieder entzogen hatte, tat unendlich gut.
»Was du vor den Menschen bist, zählt nicht«, sagte Randulph, der jetzt wieder meilenweit von ihr entfernt war. »Nur was du vor Gott bist. Ich werde meinen Einfluss geltend machen, damit man dir deiner Geburt zum Trotz in einem Frauenkloster die Profess abnimmt. Darüber zu entscheiden hat Abt Henry von Fountains Abbey. Ich bin sicher, er wird sein Möglichstes für dich tun.«
Amicia überlegte. War es nicht das, was sie gewollt hatte – hinter den Mauern eines Klosters verschwinden und auf immer zu einer Gemeinschaft gehören? Als Kind hatte sie dem Abt an den Lippen gehangen, wenn er ihr von der Nähe zu Gott erzählt hatte, um die die Mönche mit all ihren Kräften rangen. Sie hatte sich nach der Nähe Gottes gesehnt. Wenn ich keinem Menschen nah sein kann, hatte sie gedacht, wenn ich keine Heimat habe – kann ich dann Gott nah sein und in ihm eine Heimat finden? Die kindliche Vorstellung einer Vatergestalt, die sie in ihre mächtigen Arme zog und nicht mehr losließ, war überwältigend schön. Sooft Amicia hinterher in der Stille und Leere ihrer Hütte die Augen schloss, stellte sie sich Gott vor wie Randulph: kahlköpfig, hager, die Stimme ruhig, doch die Augen flackernd vor Leidenschaft.
Sollte sie sich nicht freuen, wenn der Abt ihr den Weg in ein Kloster ebnete? Das Kloster in ihren Träumen war immer Quarr gewesen, die Gottesburg aus graugelbem Stein, umgeben von Wiesen, auf denen zottige Pferdchen grasten, errichtet auf der Isle of Wight und geschützt durch das Meer. Undenkbar, dass sie in einem fremden Kloster fern der Insel ihre Heimat in Gott finden würde!
Amicia wollte auf einmal die Hände in den Boden graben und sich an Schollen und Graswurzeln festklammern, doch die Steinplatten waren glatt und wiesen sie ab. Dies ist mein; ich gehöre hierher, dachte sie. Erst als der Blick des Abtes sie traf, wurde ihr klar, dass sie laut gedacht hatte.
»Dass du nicht hierhergehören kannst, habe ich dir immer gesagt, oder nicht?«
»Ja, das habt Ihr.« Jäh erfasste eine dumpfe, bleierne Müdigkeit Amicia. »Etwas in meinem Innern sträubt sich dennoch dagegen. Mir ist zumute, als könnte ich meine Heimat nie finden, wenn ich ein Boot bestiege und die Insel verließe.«
»Eben aus diesem Grund musst du fort.« Abt Randulph stand auf und wandte sich ab, um von Neuem die mörderische Illustration zu betrachten. Einen letzten langen Blick widmete er ihr, dann schlug er das Buch vorsichtig zu. »Bis zu eurem Aufbruch will ich, dass du dich vor Fremden
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