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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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bestrafen. Sich rächen, aber nicht für den Verlust eines Geldsäckels, sondern für etwas, das weit schwerer wiegt.«
    »Und was soll das sein?«
    »Was weiß denn ich?«, rief sie hastig.
    Er drehte sich zu ihr um. »Amsel«, sagte er. »Schwerer als Diebstahl wiegen Verrat und Mord.«
    Ihr wurde kalt.
    »Glaubst du, der junge Mann in deiner Hütte ist ein Verräter und Mörder?«, fragte der Abt.
    Amicia überlegte. Sie sah den Ritter vor sich, wie er mit schmerzverzerrtem Gesicht in den Betttüchern lag. Gleich darauf sah sie ihn, wie sie ihn am ersten Tag gesehen hatte: den kalten Blick, der ihr durch und durch ging, den grausamen Zug um den Mund, den Ausdruck von Menschenverachtung. Sie wusste auf Randulphs Frage keine Antwort. Jede Faser am Leib des Mannes war ihr vertrauter, als ihr lieb war, doch der Mensch, der den Leib bewohnte, war ein Fremder. Sie wusste nicht, woher er kam, was ihn antrieb und wohin er unterwegs war. Nur dass er ihr Angst machte. Dass sie froh war, seine Augen nicht sehen zu müssen und nicht das Dunkle zu kennen, das in seiner Geschichte lauerte.
    »Er ist keiner«, sagte Randulph.
    Sie zuckte zusammen. »Was meint Ihr?«
    »Sir Matthew ist weder ein Mörder noch ein Verräter. Ich vertraue ihm. Ich will, dass du das weißt.«
    Ihr Herz begann zu rasen. In unzähligen Nächten hatte sie gebetet, dieser Augenblick möge niemals kommen, Randulph möge sie niemals von hier fortschicken. Ihre Gebete waren nicht erhört worden. Der Augenblick war da.
    »Ich bin überzeugt, dass die, die ihn überfallen haben, ihn warnen wollten«, sagte Randulph. »Er muss von der Insel hinunter, sobald er reisefähig ist. Und du musst mit ihm gehen. Nicht nur, weil Quarr, wie du immer gewusst hast, kein Ort für dich ist, sondern auch, weil dein Leben in Gefahr ist.«
    »Mein Leben?« Wie von selbst wanderte ihre Hand auf ihr Herz. »Was habe denn ich damit zu tun? Wem habe ich etwas getan?«
    »Es geht nicht um etwas, das du getan hast oder das Matthew getan hat, sondern um etwas, das viel älter ist und tieferen Schichten entstammt. Du und er, ihr seid nur Pfänder. Zwei Bauern im Schachspiel, die man opfert, wenn es um den Schutz des Königs geht.« Seine Stimme klang bitterer denn je. In seinem Gesicht zuckte ein Muskel, dann wandte er sich wieder dem Buch zu. Ein Finger fuhr über die vergoldeten Ränder der Illustration. »Amicia«, sprach er sie an. »Du erinnerst dich an nichts mehr, nicht wahr?«
    Hatte sie je gehört, wie er sie bei ihrem Namen rief? Wieder nickte sie, obwohl er es nicht sehen konnte. Wer nickte, vollführte nur eine Bewegung des Kopfes und sprach keine Lüge aus.
    »Ich höre dich nicht«, sagte Randulph. »Aus der Zeit, ehe du zu uns kamst – erinnerst du dich wahrhaftig an nichts?«
    Sie sah zu Boden, stierte auf die glatten, schmucklosen Kacheln. Nein, sie erinnerte sich nicht. Ihr Gedächtnis hatte keinen Namen und kein Bild bewahrt. Nur Fetzen, die sie bei Nacht aus dem Schlaf rissen und ihr Angst einjagten. Wenn die Fetzen sich über ihr aufbäumten, verkroch sie sich unter die Decke, umklammerte den Stein an ihrem Hals und flehte zur heiligen Franca, die vor Albträumen schützte, um Erlösung.
    Es gab auch andere Fetzen. Solche, die, wenn sie jäh auftauchten, Wärme und Trost mit sich brachten, wie Amicia sie in ihrem Leben nicht kannte. Einer der Fetzen zeigte ein Kind, das bei einer Frau am Fenster saß. Es war ein hohes Fenster, verziert durch kunstvolle Glasmalerei, und wenn man es aufstieß, gab es den Blick die Motte hinunter und in die Ebene frei. In der Ebene schien alles grün zu sein: die vor der Reife stehenden Felder, die weiten Koppeln und der Wald. Vor dem Fenster waren zwei Sitze in den Stein gemauert, einer für die Frau und einer für das Kind, und die Frau sagte manchmal zu dem Kind: »Wollen wir uns heute Abend wieder auf unseren Sitzen treffen?« Die Frau war schön, sie war die Schönste, die das Kind kannte, und sooft sie so zu dem Kind sprach, wollte es vor Freude jauchzen.
    Wenn dieser Fetzen verblasste, wurde Amicia mit einem Schlag klar, wie einsam sie war.
    »Ich habe dir eine Frage gestellt«, sagte Randulph.
    »Nein«, sagte Amicia. »Ich wüsste nicht, dass ich mich erinnere. Warum fragt Ihr?«
    Diesmal war er es, der keine Antwort gab. Stattdessen strich er weiter über die Illustration und wechselte das Thema. »Ich habe vorhin gesagt, ich lege vor dir keine Beichte ab. Aber ein Geständnis mache ich: Ich habe einen Schwurhandel mit

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