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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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krallte sich an seinen Schultern fest. »Ich weiß es nicht.«
    Er wandte den Blick nicht von ihr. Wie schön seine Augen waren, hätte sie vom ersten Tag an erkennen sollen, und doch erinnerte sie sich noch immer an die Angst, die sie ihr eingejagt hatten. Ein Rest davon war noch übrig wie das Gefühl der Wachsamkeit nach einem üblen Traum.
    »Doch«, sagte er. »Das glaube ich dir. Hast du dein Gedächtnis völlig verloren? Ist keine Spur mehr da?«
    Sie hatten alles überwunden und eingerissen: die Motte, die Palisaden, das Torhaus und das Fallgitter. Sie konnten sich jetzt nicht zurückziehen und darauf beharren, dass sie einander Fragen verboten hatten. »Ich glaube, vieles ist übrig«, sagte sie. »Aber es liegt unter einer dünnen Schutzhaut, und die rühre ich nicht an, weil ich mich vor dem fürchte, was darunterliegt. Klingt das verrückt, Matthew? Klingt es völlig krank?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte er und strich über ihr Haar, sodass ihr bewusst wurde, wie sehr es gewachsen war. »Bei mir war es genauso. Vielleicht sind wir ja beide verrückt und krank.«
    »Bei dir war es genauso?«
    Er beugte sich vor und küsste sie auf den Ansatz der Brust.
    Sie schlang die Rechte um sein Haar im Nacken, zog ihm den Kopf zurück und suchte seinen Blick. »Du weißt, wer du bist, oder nicht? Du heißt Matthew de Camoys und gehörst zur Familia irgendeines Barons im Norden, der dich nicht zum Kriegsdienst abstellt, sondern dich losschickt, um wie ein erbsenzählender Beamter Steuern einzutreiben. Was gibt es, das du von dir nicht weißt? Was ist bei dir genauso wie bei mir?«
    Sein Gesicht verschloss sich. Erst als sie sein Haar losließ und er den Kopf zur Seite drehen konnte, sagte er: »Ich habe einen Teil meines Lebens vergessen, weil ich nicht den Mut hatte, ihn noch einmal anzusehen.«
    »Und hast du ihn irgendwann angesehen?«
    »Nein. Jemand hat ihn mir gezeigt.«
    Er war unmerklich von ihr abgerückt, sah sie noch immer nicht an und sprach jetzt wieder so stur und schroff, wie sie ihn den Winter über erlebt hatte. Sie wollte ihm sagen, dass er sich lächerlich betrug, dass seine Launen eines Mannes nicht würdig waren und dass sie bis obenhin genug davon hatte. Stattdessen schloss sie die Arme um ihn und liebkoste den eisenharten Muskelstrang in seinem Nacken. Amicia empfand keinen Zorn, sondern spürte, dass ihm dieselbe Verletzung zugefügt worden war wie ihr: Man hatte ihnen einen Teil der Vergangenheit geraubt, einen Teil ihrer selbst. Die ständige Verstörung, das Gefühl, sich nicht zurechtzufinden, das Leben zu fürchten und sich am liebsten in geschützten Räumen zu verkriechen, entstammte diesem Verlust.
    »Matthew?« Unter den Fingern spürte sie, wie der verhärtete Muskel zitterte.
    Er sagte nichts.
    Sie streichelte ihn. »Matthew. Liebster«, sprach sie ihn an und erschrak vor dem Wort.
    Er blickte auf.
    »Du willst mir nicht davon erzählen, nicht wahr?«
    Verzweifelt schüttelte er den Kopf. »Du würdest mich hassen, Amicia. Viel mehr, als du mich im Winter gehasst hast.«
    »Ich glaub nicht«, hörte sie sich sagen, gab ihm kleine Küsse entlang des Haaransatzes und dachte: Habe ich deshalb Angst davor gehabt, ihn zu lieben? Weil mir jetzt der Gedanke unerträglich ist, ihn jemals herzugeben?
    Sie hatte Quarr verloren. Sie hatte die Insel verloren, Randulph und die Handvoll Menschen, die ihre Welt bedeutet hatten. Sie hatte es überlebt. Dass sie den Verlust des störrischen, schwierigen, tief verletzten Mannes in ihren Armen überleben könnte, erschien ihr jedoch gänzlich unvorstellbar.
    Ich kann dich doch nicht lieben!, schrie etwas in ihr. Du bist ein Fremder, der mir das dunkelste Moment seines Lebens verschweigt. Ich kann mich dir doch nicht gänzlich ausliefern! Aber ihre Hände fuhren fort, seinen Nacken zu streicheln, ihre Lippen küssten ihm weiter Stirn und Schläfen, und ihr Herz schlug ruhig.
    Er richtete sich halb auf und nahm ihr Gesicht in die Hände. »Du bist so tollkühn, zauberhaftes Mädchen. Weißt du, wie sehr ich mir wünschte, ich hätte an dir wie ein Mann von Ehre gehandelt?«
    »Du hast an mir wie ein Mann gehandelt«, sagte sie, lachte, obwohl ihr nicht danach zumute war, und biss ihn noch einmal in die Schulter. »Das ist mir lieber, hast du das nicht gemerkt?«
    Neben seinen Mundwinkeln formten sich die kleinen Gruben, und einen Herzschlag lang entspannte sich sein Gesicht. Dann wurde es wieder hart. »Amicia? Kannst du mir eines glauben?«
    »Sei ein

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