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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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gedacht?«
    »An dich«, sagte er.
    Die zwei Worte strichen über ihr Herz, und der freudige Schrecken schoss ihr bis in die Kehle. »Und was denkst du von mir?«
    »Eine Frage, hast du gesagt.« In seine Wangen stieg Röte.
    Sie hätte gerne vergessen, wo sie war, und mit den Fingerspitzen über sein Gesicht gestrichen. »Du bist ein Ritter, Matthew. Sei mutig, und beantworte auch diese noch. Was hast du von mir gedacht?«
    »Dass dein Haar wächst, habe ich gedacht«, sagte er. »Dass du dich an diesem Ort bewegst, als wärst du hier zu Hause, dass du in die Messe gehen willst und dass du mir fehlen wirst, heute Nacht.«
    Nie zuvor war er so weit gegangen, nie hatte er sich vor ihr solch eine Blöße gegeben. Sie sah seine Stirn an, die in angespannten Falten lag. Sie hatte Magdalene die Wahrheit gesagt. Es war nicht nur ihr Körper, der einen schönen Mann in den Armen halten wollte, es war nicht nur ihr Kampf gegen den Albtraum und die Einsamkeit. Sie hatte ihn lieb, und wenn es noch so unverständlich war, noch so töricht und noch so vergebens. »Wo schläfst du?«, flüsterte sie. »Bei Althaimenes? Ich komme heute Nacht zu dir.«
    »Aber die Messe …«
    »Ich glaube, ich habe im Augenblick nicht die Kraft, herauszufinden, was Gott von mir will«, sagte Amicia. »Er spricht nicht zu mir. Aber ich kann unmöglich glauben, dass er mir seine Nähe verbietet, wenn ich sie am nötigsten brauche. Verbiete du mir die deine auch nicht. Jetzt iss deine Pottage. Sie sieht köstlich aus.«
    Über der Schüssel mit dem Eintopf, der längst aufgehört hatte zu dampfen, begegneten sich ihre Blicke. Hilflos schüttelte Matthew den Kopf. »Ich kann wirklich nicht essen.«
    »Ich auch nicht«, gestand Amicia. »Mein Magen ist ein Knoten.«
    »Das ist eine erstaunlich treffende Beschreibung.«
    Sie lachten nicht. Sie sahen einander nur voll Verwunderung an. Nach einer Weile ging Amicia und brachte den kalten Eintopf Hugh, der selbst mit Zahnweh mehr Hunger hatte als Essen im Napf.
    Der Stall des Hospizes besaß eine Sattelkammer, in der Matthew sein Lager aufgeschlagen hatte. Es roch nach Heu und Leder, und in der Stille hörten sie die Schweife der Pferde schlagen, die Hufe im Stroh scharren und die starken Zähne Getreide zermahlen. Die beruhigenden Geräusche taten gut, denn in Amicia war alles aufgewühlt wie das Meer vor der Isle of Wight in manchen Wintern, wenn das Boot nicht übersetzen und keine Nachricht vom Festland bringen konnte.
    In dieser Nacht erlag Matthews Verteidigungslinie Amicias Ansturm. Nur noch lau und schon fast resigniert behauptete er sich, doch sie riss ihm den Stoff von den Hüften wie angreifende Ritter einen hölzernen Wehrgang von der Burgmauer. Sie jubelte laut, als ihre Hände endlich Haut ertasteten, und er stöhnte ein letztes Mal, ließ alle Brücken hinunter und lief mit fliegenden Fahnen zu ihr über. Jetzt hatte er nichts Verzagtes und Verhaltenes mehr, sondern nahm sie als Eroberer. Es tat weh, als würden wahrhaftig Mauern eingerissen, aber der Schmerz hielt Amicia nicht ab, immer weiterzupreschen. Um ihm standzuhalten, biss sie ihn in die Schulter. Als sie gemeinsam die Burg gestürmt hatten und sich entkräftet fallen ließen, prangte in seinem Fleisch das kreisrunde Mal ihrer Zähne.
    Im Licht der Stalllaterne auf dem Gang sah sie ihn an. Jede Linie, jede Zeichnung, das bläuliche Schimmern der Adern an der Schläfe, die langen Wimpern, die sie so sehr rührten, den Hals, der schlank aus den Schultern wuchs, die tiefe Narbe auf dem Brustkorb, die die goldene Haut zu straffen schien. Das alles hatte sie besessen, es hatte Zoll um Zoll ihr gehört! Sie streichelte ihn, führte die Finger andächtig über sein Schlüsselbein. Dann sah sie seine Hand, die einen Gegenstand umklammert hielt. Den Stein, der an dem Band um ihren Hals hing. Amicia erschrak. Der Stein war immer ein Teil von ihr gewesen so wie ihr Arm oder Bein. Jetzt wünschte sie, sie hätte ihn abgenommen, ihn irgendwo verborgen, damit er nicht zwischen ihnen lag.
    Langsam öffnete Matthew die Finger und betrachtete das Kleinod, das schimmerte wie goldenes Glas. »Das ist schön«, sagte er. »Die Händler vom baltischen Meer bringen solche Steine mit. Wer hat ihn dir gegeben?«
    Keine Fragen , wollte sie ihn mahnen, wir hatten einander versprochen, wir stellen keine Fragen. Aber dazu waren sie sich zu nah, er noch in ihr und die Innenseiten ihrer Schenkel nass von ihm. »Du wirst es mir nicht glauben«, sagte sie und

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