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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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Gruppe von Pilgern, die mit hölzernen Näpfen und Löffeln auf ihr Abendessen warteten. Die Abzeichen an ihrer Kleidung kündeten von einer Pilgerreise nach Westminster, wo sie am Schrein von Edward dem Bekenner um Heilung von schwerer Krankheit gebetet hatten.
    Der Geruch nach Weihrauch und Kräutertinkturen, die geschäftigen Geräusche, die dennoch Raum für Stille ließen – alles erinnerte Amicia an die Abtei von Quarr. Sie fühlte sich nicht im Geringsten fremd, sondern bewegte sich mit einem Selbstvertrauen, das an der Schwelle zum Übermut stand.
    Die Brüder teilten Decken, Näpfe und Brotscheiben aus, und kurz darauf standen Timothy, Hugh, Magdalene und Amicia in der Schlange vor dem Kessel, in dem sämige Pottage aus Erbsen köchelte. »Warum bleibst du nicht liegen wie der Alte, Magdalenchen?«, bestürmte Timothy das Mädchen. »Ich könnte dir deinen Teil doch bringen, ich täte das gerne für dich!«
    »Weil ich kein Alter bin, sondern ein gesundes Ding von ungefähr achtzehn«, fauchte Magdalene ihn an. »Oder vielleicht auch neunzehn, aber das macht ja keine Greisin aus mir.«
    »Was ist mit deinem Herrn Matthew?«, unterbrach Amicia, die schon wieder lachen musste, ihr Gezänk. »Sollen wir ihm etwas bringen? Vermutlich ist er sich zu fein, um für sein Essen anzustehen.« Matthew stand an der Wand zwischen den Lagern, hielt die Arme auf dem Rücken verschränkt und sah aus, als wäre er gern im Boden versunken.
    »Das ist hässlich, dass du das sagst«, erwiderte Magdalene. »Ein Ritter steht oft für sein Essen an, und Herr Matthew ist sich für gar nichts zu fein. Vielleicht denkt er darüber nach, wie er etwas zu fressen für den Hund auftreiben kann oder wo er einen Zahnreißer findet, der Hugh von seinen Schmerzen befreit.«
    »Was hat Hugh denn für Schmerzen?«, fragte Amicia und kam sich dümmlich vor. Erst jetzt bemerkte sie, dass der Stumme, der hinter ihnen in der Schlange stand, noch immer wimmerte. Sein Gesicht war seitlich verzerrt, ein Kiefer angespannt.
    »Er hat einen faulen Zahn«, erklärte Magdalene.
    »Und woher weißt du das?«
    »Ich weiß es ja nicht. Mein Herr Matthew weiß es. Er mag nicht besonders gesprächig sein, und vielleicht wirkt er grob auf die, die ihn nicht kennen – aber wenn Mensch und Tier leiden, spürt er’s und leidet mit. Ich dachte, du wüsstest das, Amsel. Ich dachte, du hättest meinen Herrn Matthew auch liebgewonnen.«
    »Aber ja«, beschwichtigte Amicia sie. »Meinethalben habe ich ihn auch lieb, aber ich bezweifle trotzdem, dass er nur hehre Gedanken und kein einziges niederes Bedürfnis hegt. Wenn du mich fragst, hat er Hunger und ist nur zu feige, sich zu uns zu gesellen.«
    »Er ist nicht feige! Er schämt sich höchstens, etwas anzunehmen, für das er nicht bezahlt hat.«
    »In Quarr hatte er solche Skrupel nicht«, widersprach Amicia. »Außerdem steht es ihm frei, dem Hospiz eine beliebige Summe zu stiften.«
    Ehe Magdalene etwas darauf erwidern konnte, war Amicia an der Reihe und erhielt ihre Kelle voll dampfendem Eintopf. »Gebt mir noch etwas«, verlangte sie unverblümt. »Ich habe einen Esser mehr zu versorgen.«
    »Ein Kind?«, fragte der Bruder.
    »So etwas Ähnliches«, erwiderte Amicia und machte sich mit ihrer bis zum Rand gefüllten Schale davon. Matthew sah sie kommen, schien aber durch sie hindurchzuschauen. »Ich bin hier, um mein Abendessen mit Euch zu teilen, Mylord«, teilte sie ihm fröhlich mit.
    Skeptisch senkte er den Blick auf den appetitlichen Eintopf, dann starrte er wieder gedankenverloren in Amicias Gesicht. Statt sich zu bedanken, sagte er: »Ich habe keinen Hunger.«
    »Tatsächlich nicht? Sag nicht, du schlägst dich tatsächlich mit Gedanken an Hughs Zahnreißer und das Futter für den Hund herum.«
    »Der Hund hat ein Stück Ziegenlende bekommen«, sagte er. »Und mit Hugh könnte ich morgen auf den Markt nach Guilford, um einen Zahnreißer zu finden, aber nur wenn ihr versprecht, euch nicht von hier fortzurühren und euch nicht zu trennen.«
    »Und daran hast du gedacht? Deshalb kannst du nicht essen?«, fragte Amicia ungläubig.
    »Nein«, sagte er.
    »Woran denkst du dann?«
    Er sah gar nicht aus, als starre er durch sie hindurch. Er sah aus, als träume er. »Wir hatten uns geeinigt, keine Fragen zu stellen.«
    »Jetzt zier dich nicht!« Mühsam widerstand sie der Versuchung, ihn bei den Schultern zu packen und ein wenig zu schütteln. »Diese eine wirst du wohl beantworten können: Woran hast du

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