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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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etwas anderes als Schutz verheißen, und ihre breiten Tore hatten sie eingeladen, obgleich sie nur zu einem Seitenschiff, der Fremdenkapelle, Zutritt hatte.
    »Was ist das?«, fragte sie.
    »Ein Hospiz«, antwortete Matthew und blickte weiter geradeaus. »Es wird von Augustinern betrieben. Sie nehmen Sieche, Greise und Obdachlose auf, dazu alle Pilger, und wenn sie Platz haben, nehmen sie auch uns.«
    »Lassen sie Frauen in ihre Messe?«, entfuhr es Amicia. Sie hatte nicht gewusst, wie sehr sie sich danach sehnte, die Messe zu hören, wie sehr die vertraute Schönheit der lateinischen Formeln und die Tröstung des Sakraments ihr fehlten. Als Kind hatte sie einmal zu Randulph gesagt: »Ich will nicht, dass unser Herr Jesus für mich gestorben ist. Ich will, dass er für mich lebt.«
    »Sorg dich nicht. Er tut beides«, hatte Randulph ihr zur Antwort gegeben und ein Schmunzeln verbergen müssen, wie sie es nicht von ihm kannte. Seither hatte sie jedes Mal, wenn sie das Sakrament empfing, daran gedacht und es sich vorgesprochen: Sorge dich nicht. Er tut beides. Es fiel nicht immer leicht, es zu glauben, aber es nährte die Hoffnung.
    Endlich wandte Matthew den Kopf und sah zu ihr hinunter. »Sie sind Augustiner, keine Zisterzienser. Der Graben, den sie zwischen sich und der Welt ziehen, ist nicht so tief. Soweit ich weiß, lassen sie jeden in ihre Messe, der es wünscht. Aber würdest du …« Er stockte und knetete sich die Stirn. »Würdest du denn eine Kirche betreten dürfen?«
    So etwas Ähnliches hatte Magdalene sie an Weihnachten gefragt: »Dürfte denn eine wie ich eine Kirche betreten?« Amicia wusste, was beide umtrieb: Eine Kirche war ein heiliger Ort, der Altar auf der Reliquie eines Heiligen begründet, bei Zisterziensern gar auf einer der Heiligen Jungfrau, und eine Frau in unreinem Zustand übte entweihende Wirkung auf sie aus. Als unreiner Zustand galt die Zeit des Blutens ebenso wie die des Kindbetts, doch nichts war entweihender als eine Frau, an der der Duft der fleischlichen Lust klebte. Amicia hatte es von etlichen, die um ein Almosen kamen, gehört. Irgendwann hatte sie Randulph danach gefragt, der wie so oft vor seiner Antwort lange überlegte.
    »Wenn ich mich bei jedem Besucher fragen würde, ob er rein genug für die Heiligkeit der Kirche ist, dann wäre die Kirche leer«, hatte er schließlich gesagt. Tage später holte er Amicia ins Skriptorium und zeigte ihr einen Vers im Evangelium des Matthäus, den sie jetzt für Matthew wiederholte: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken.«
    Er ließ seinen Blick eine Zeit lang auf ihr ruhen. »Aber denen mit den scheußlichsten Krankheiten weist der Arzt die Tür«, sagte er dann, schloss die Schenkel um den Leib des Pferdes und rief im Antraben über die Schulter zurück: »Ich reite voraus und frage, ob wir über Nacht bleiben können. Ihr folgt mir ohne Verzug und trennt euch nicht!«
    Für diese Nacht waren die Reisenden am Ziel. Im Handumdrehen kam Matthew durch den dichter werdenden Regen zurückgesprengt und vermeldete, dass das Hospiz Platz genug hatte und sie willkommen hieß. Vor Erleichterung fielen Magdalene und Timothy sich in die Arme.
    Im Näherkommen schälten sich aus den Schleiern die Nebengebäude, die sich rund um das Hospiz duckten. Es gab aus Fachwerk und Lehmbewurf gezimmerte Hütten, hölzerne Stallungen und mehrere gemauerte Bauten für Gerät und Vorräte. Obstbäume, ein Taubenschlag und Beete mit jungem Gemüse vervollständigten das Bild einer Welt, wie Amicia sie kannte. Ein Bruder in brauner Kutte empfing sie hinter der niedrigen Mauer und zeigte ihnen, wo sie die Pferde und das Maultier einstellen konnten. Es hatte etwas von Heimkehr, als sie die riesige Halle betrat, in die selbst an dem trüben Abend noch Licht fiel.
    Der hintere Teil des Gebäudes war abgetrennt und zur Kirche geweiht, der Rest hingegen diente als Schlafsaal für Kranke und Pilger, die hier auf der Durchreise Obdach fanden. Entlang der Außenwände waren in Reihen Strohlager aufgeschlagen, die zweifellos vor Ungeziefer wimmelten, aber auf die erschöpften Reisenden dennoch verlockend wirkten. In der Mitte zwischen den Reihen bewegten sich die Brüder, die die Gäste versorgten, auf einer Kochstelle eine Mahlzeit bereiteten, Wasser wärmten und Arzneien mischten.
    Nur ein kleiner Teil der Bettstellen war besetzt. Auf der linken Seite lagen insgesamt fünf Kranke, darunter ein Greis, der im Schlaf lallte. Gegenüber lagerte eine

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