Kairos (German Edition)
leise. „Wer weiß, wie lange sie die Hauptstädte jetzt noch unbeschadet lassen.“
Bals strich sich die Bartstoppeln. Das Wort Gnadenfrist fiel ihmein.
„Ganz richtig“, sagte Sharon Saintluca. „Es wird von nun an noch schlimmer werden.“ Sie machte eine Pause, und als sie wieder sprach, war ihr Gesicht von trotziger Entschlossenheit gezeichnet. „Aber ein Volk, das sich wissentlich der eigenen Ausrottung beugt, ist keines, das einen Platz im Kosmos verdient.“
Bals sah zu den im Wüstensand tanzenden bunten Gestalten und mußte Saintluca recht geben. Ihre Worte mochten martialisch sein, deren wahrer Kern aber war nicht von der Hand zu weisen. Bislang hatte man geglaubt, es gäbe keine Chance, dem Griff von Wesen zu entkommen, die etwas bauen konnten, das die Talente der Menschheit derart überstieg. Aber jetzt ... Die Shumgona waren verwundbar. Die Terramenschen, würden um ihre Zukunft kämpfen müssen, dabei entweder etwas erreichen oder sterben.
„Paul, Sie erwähnten etwas über neue Schadens- und Verlusterhebungen.“
Was sein sollte...
„Äh, das ist richtig, Herr Präsident.“
„Heraus damit. Ich will alles wissen.“
... würde sein.
39
William Swan kauerte auf dem Dielenboden im Wohnzimmer, den Kopf gegen die Armlehne seines Lieblingssessels gestützt. Marta lag reglos in seinen Armen, die Lider geschlossen, ihr Teint blaß wie Porzellan. Sie war nicht tot, noch nicht, soviel wußte er. Unter ihren Lidern regten sich die Augen nur ganz schwach, aber er sah es ganz deutlich, und das hielt eine schwache Hoffnung in ihm wach.
Im Moment ihres Anfalls, als die vielen Hubschrauber am Himmel erschienen waren, hatte Marta sich kurz in einer zerstreuten Geste an den Kopf gefaßt, etwas Unbestimmtes über ein plötzliches Unwohlsein gesagt und dann die Augen verdreht. Sie war zu Boden gestürzt. William war sofort bei ihr gewesen. Er hatte aus ihrem Mediset eine Injektionsspritze mit einem blutverdünnenden Präparat geholt und sie ihr in den Oberarm gesetzt. Nichts geschah. Er hatte auf sie eingeredet, erst sanft, dann energisch, hatte sie in den Armen gewiegt wie ein Kind, dem er die Angst vor derDunkelheit nehmen wollte. Er fürchtete, all das wäre umsonst, wenn nicht bald Hilfe einträfe, was angesichts der globalen Katastrophe, die sich abspielte, höchst ungewiß war.
Joshua stand neben William, die Hände in verzweifelter Hilflosigkeit ringend. William blickte zu ihm auf. „Josh! Du mußt eine Ambulanz holen. Nimm dein Pad und aktiviere das Notsignal!“
Joshua rührte sich nicht. William begriff im selben Augenblick, daß es auch nichts ändern würde, wenn Joshua etwas unternehmen würde. Netz- und Kommunikationsverbindungen waren zusammengebrochen. Und falls sich eine Verbindung zur Notrufzentrale aufbauen ließe, war es ein Ding der Unmöglichkeit, einen Arzt aufzutreiben, der sich Marta annehmen würde. Da draußen starben Hunderttausende. Für eine alte Frau auf dem Land blieb keine Zeit.
Sie in das nächstgelegene Krankenhaus zu fahren, schied ebenso aus; sämtliche Straßen nach Inverness waren entweder von dem Flüchtlingstreck in die Highlands verstopft oder vom Militär für Zivilfahrzeuge gesperrt.
Marta starb. In seinen Händen. Er konnte nichts dagegen tun. „Ruf … Hilfe…“ Josh reagierte nicht.
Jack kam hereingerannt, Laub und Ästchen im Fell. Joshua hatte gar nicht mitbekommen, wie der Hund sich davongemacht hatte. Der hechelte, als wäre eine weite Strecke gerannt, und japste und heulte, als er Marta sah. Der Hund spürte, daß sie starb. Dies war ein wichtiger Moment.
Joshua, Jack an seiner Seite, schaffte es irgendwie, näherzutreten. Stumm starrte er auf seine Großmutter. Er hatte noch niemals zuvor einen toten Menschen gesehen. Den Leichen seiner Eltern war er nie ansichtig geworden. Jetzt sah er dem Tod in sein bleiches, gelöstes Gesicht.
Sein Verstand wollte ihn fortführen. Unvermittelt mußte er an ein totes Taubenjunges denken, daß er einmal gefunden hatte. Es mußte wohl, kurz zuvor erst flügge geworden, beim ersten Flugversuch abgestürzt sein. Jack hatte es aufgestöbert und behutsam beschnuppert. Joshua hatte es aufgehoben, die kleinen Knochen und den winzigen Schädel unter der Haut gefühlt, die Daunen und Federn, und es schließlich mit ein paar guten Worten im Wald begraben.
Er glaubte fest daran, daß Menschen eine Seele hatten – daß jedem lebendigen Wesen ein Geist innewohnte, der im Augenblick des physischen Todes aus dem
Weitere Kostenlose Bücher