Kairos (German Edition)
sein Begleiter. Dieser vollführte eine Geste der Hochachtung. „Du riefst mich?“
„Nein.“ Quesehual schloß seine Augen wieder. „Die Götter schickten dich.“
Enriqu gehörte zu den jungen Stammesleuten, die sich mehr und mehr dem westlichen Denken und Leben öffneten. Heute aber hatten seine Stammesschwestern ihn den Traditionen gemäß gewaschen, mit Palmöl eingerieben, geschmückt und bemalt. Enriqu stand unbeweglich da, den Blick starr auf den Rücken des Alten gerichtet. „Geschichtenerzähler?“, fragte er leise.
Quesehual sog die feuchte Luft ein. Seine Sinne waren geschärft. Er spürte eine Raubkatze durch das Dickicht schleichen. Er riß die Augen auf, wandte sich um, suchte und fand Enriqus Blick. Der Jüngere bemerkte mit leisem Entsetzen das Leid in Quesehuals Augen.
„Wir sollten uns setzen“, sagte der Schamane. Enriqu gehorchte.
„Sag spürst du den Wind vom Heiligen Berg kommen?“
„Ja.“ Er ließ den Blick schweifen. „Sturm naht.“
Quesehual musterte sein Profil. Die fliehende Stirn, das lange, zurückgekämmte Haar, die Initiationsnarben auf seiner Stirn. Er trug ein kunstvoll geschnitztes Blasrohr und ein Messer bei sich.
Wahrhaftig ein Kind der Ashaninka
, dachte der Schamane,
ein Krieger. Und erwählt.
Enriqu sagte: „Ich sehe Wolken am Horizont meiner Vorsehung. Aber auch viel Licht in den Tiefen meines Geistes. Mit den Winden ziehen die Gerüche von Krieg.“
„Du kennst also deine Bestimmung?“
„Ja.“
„Es ist der Wille der Großen Alten.“
Verborgen im Dschungel grollte die Raubkatze. Enriqu griff sein Messer fester; sein Blick huschte umher.
Lächelnd sagte Quesehual: „Laß ihn. Er ist ein Hoher Geist. – Und wer bist du?“
„Ich bin Enriqu.“
„Erwählter.“
Ein Vogelschwarm stob aus den Wipfeln, stieg auf und flog gen Pazifik.
„Großer Lauscher, werden die Götter ihr Wort halten und erneut an unserer Seite stehen, kämpfen und mit uns sterben, wie es die alten Schriften künden?“
Quesehual sah ihn prüfend an, dann lächelte er. „Die Götter sind das Wort, Enriqu. Du, ich – alles folgt ihrem Ruf. Wir sind ihre Kinder, aber auch ihre größte Sorge...“ Er betrachtete die aufgehende Sonne. Sehr leise sagte er: „Sie hießen uns zu warten und bereit zu sein, wenn der Tag ihrer Wiederkehr kommt. – Nun, sie sind wiedergekehrt.“
Enriqu sagte nichts.
Der Medizinmann formte mit den Händen einen Kelch, füllte ihn symbolisch mit Sternenlicht und goß es über Enriqu. „Dein Herz formt deinen Geist, Erwählter. Und deine Taten formen dein Herz.Es ist, was du tust, nicht, was dir getan wird. Dein Herz ist es, auf das der Große Geist sieht.“
„Das Licht des Firmaments hat mein Herz reingewaschen, Lauscher.“
„Es wird einen Krieg geben“, fuhr Quesehual tonlos fort. „Aber er wird auch vorbeigehen. Und die Welt danach eine andere sein. Denn die Menschen haben Verbündete, im Verborgenen.“ Er sah Enriqu geduldig an. „Es heißt, die Sterngesandte wird Verrat üben, und daß du über sie richten wirst.“ Er hob die Stimme: „Gehe zum Tempel der Unsichtbaren. Bewache ihn.“ Er holte etwas unter seinem Poncho hervor, einen flachen, weißen Gegenstand, der selbst das wenige Morgenlicht hell reflektierte. Er hielt ihn Enriqu hin, der ihn ergriff und sich erhob.
„Eins noch“, sagte der Schamane. „Gebe dich den Menschen nicht als der zu erkennen, der du bist. Die Sterngesandte wird ihren Geist beschatten, also täusche sie zunächst.“
Enriqu nickte – und fragte dann: „Und meine Gefährten?“
„Manche quälen Dämonen. Schuld zerrt an ihnen. Traue ihnen nicht.“
Enriqu schien eine Entgegnung zu erwägen, nickte aber schließlich und schritt davon.
Quesehual sah ihm nach, als Anaki aus den Schatten trat.
„Er kennt sein Schicksal“, sagte Quesehual und erhob sich. „Aufrichtig sind die Worte und Gedanken deines Sohnes.“
Die Morgendämmerung zog über den Horizont, eine Zwielichtfährte zwischen Tag und Nacht. Eine Sekunde später stieg die Sonne über die Gipfel.
Enriqu verharrte am Dschungelrand stehend und wandte sich ihnen ein letztes Mal zu. „Mein Herz, Vater, es singt!“, rief er und reckte feierlich den flachen Gegenstand, der das Sonnenlicht jetzt grell zurückwarf. „Seite an Seite mit den Göttern!“ Dann verschmolz Enriqu mit dem Grün und verschwand.
Eine weitere Person trat aus dem Halbdunkel, eine Frau, ihr breites Indiogesicht fast verdeckt von pechschwarzem Haar. Traumhaft
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