Kairos (German Edition)
Holzkohle das Portrait einer jungen Frau.
In der nächsten Querstraße lag der Gemischtwarenladen, in dem Nazma dreimal die Woche jobbte, um sich damit teils ihr Studium zu finanzieren. Corey ließ sich von der Menschenmasse mittreiben.
Nazma war ein schwieriger Mensch. Meist konnte sie sich selbst nicht ausstehen und rätselte über ihre eigenen Taten und Absichten. Ihre Gefühle waren ein Wechselbad; oft schwankte sie binnen Sekunden zwischen Extremen.
Alle drei Sekunden ein neues Gefühl,
hatte sie es einmal beschrieben. Corey hatte abgewinkt und gedacht:
Das geht vorbei.
Aber das tat es nicht. Im Gegenteil.
Der Cityverkehr war mörderisch. Scheinbar eine Million Wagen verstopften die Straßen. Funkschlitten und Autorikschas stachen in die Stauenden wie Wespen. Corey bog in die Frederick Street ein und ging dann ostwärts auf der Princes. In Höhe Scott Monument stand ein Nachrichtenholo, das ein Format zeigte, in dem es um DNA-Umwandlungen bei Retortenbabys ging. Corey blieb stehen. Das Gespräch fand hier in Edinburgh statt, im Trinity-Center, in der Firmenzentrale der Gen Tec-Firma
Roslin
(derselben Firma, der 1997 mit dem Gen-Schaf Dolly ein Quantensprung in der Gentechnik gelang.). Ein Arzt, ein Theologe und ein Epiker diskutierten leidenschaftlich. Eine Werbepause folgte, in der ein farbiges Mannequin mit Baströckchen aus einer rotleuchtenden Flasche trank, um dann in gespielter Ekstase zu posieren und einen sinnentleerten Slogan zu verkünden. Danach ein Audi-Spot im Cartoonstil, unterlegt von einem Stück der ›The Who‹. (Die Musik der 1960er war gerade wieder
en vogue
.) Cory sah den Spot zu Ende, eher er weiterging, weitergrübelte.
Nazma erschien als selbstbewußte Schönheit – und war verletzlich und schutzlos wie ein Kind. Sie war gespalten, immerzu in einem Spagat begriffen zwischen Pakistan und Schottland, Grazilität und Hemdsärmligkeit. Das war der Grund, glaubte Corey, warum sie die Dinge immer so drehte, wie sie wollte: Sie war nicht angespannt, sondern regsam; energisch, nicht hysterisch, resolut statt stur.
Aber weshalb?
Nazma war im Alter von vier Jahren mit ihrer Mutter und drei Geschwistern vor dem Regime Makhdooms aus einem Slum in Karatschis Peripherie geflohen und über Umwege nach Edinburgh gelangt.
Sie wollten ein neues Leben beginnen, in Freiheit, ohne Angst.
Ein Jahr, bevor sie Schottland erreichte, hatte ihr Vater sich das Leben genommen, weil er seine Familie nicht mehr ernähren konnte. Corey hörte Nazmas Stimme: ›Es ist nicht leicht, einen Sinn in all dem zu sehen. Du kommst nach sechzehn Stunden unmenschlicher Arbeit auf den Reisfeldern mit unzähligen Schlangenbissen an Armen und Beinen und verprügelt von Marodeuren der Regionalregierung nach Haus und kannst deiner Familie nur eine weitere Schale stinkenden Patnareis bieten.‹ Nazmahatte den Kopf geschüttelt. ›All das ist ihm wirklich nicht leicht gefallen.‹
Offenbar
, war Coreys erster Gedanke.
Nazma hatte Corey ihre Lebensgeschichte genau einmal ausführlich erzählt. Makhdoom, das Waisenkind aus Lahore, hatte aus der Islamischen Republik Pakistan eine Militärdiktatur gemacht und dann den Gottesstaat ausgerufen. Er hatte Neu-Delhi mit einem Atomschlag gedroht, der Westen darauf alle Beziehungen zu Islamabad abgebrochen. Manche Regierungen schickten dennoch Hilfslieferungen, die Makhdoom aber abfangen und unter seinen Getreuen verteilen ließ. Er war für die Hungersnot verantwortlich, der Hunderttausende Pakistani und letztlich auch Nazmas Vater zum Opfer fielen. Nazma hatte Corey mit bewegenden Worten erzählt, wie sie zusammen mit ihrer Mutter spät abends in ihre Wellblechsiedlung zurückgekehrt waren und die vielen Menschen vor ihrer Hütte stehen sahen. Nazma hat immer behauptet, es bereits in diesem Moment gewußt zu haben, daß etwas mit ihrem Vater passiert war. Ihre Erinnerungen an diesen Tag, an diese Sekunden, waren immer ausgeprägt gewesen, jene an ihren Vater dagegen seit jeher lückenhaft – ein vergrämtes, vorzeitig gealtertes Gesicht, kantige Backenknochen und buschige Augenbrauen, die Haut straff über den Schädel gespannt...
Vor fünf Jahren war ihre Mutter gestorben. Pankreaskrebs, der aggressive, schnellwachsende Typ. Heute standen ihre Geschwister als unterbezahlte Leihkräfte bei PSA-Bombardier am Fließband und lebten in einem konzerneigenen Wohnblock in Glasgows Peripherie.
Aber, glaubte Corey, das Leben verlief selten linear. Aus Unglück mußte nicht immer ein
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