Kairos (German Edition)
blicke man geradewegs ins ... Nichts.“
„In die Unendlichkeit“, flüsterte Eiko.
Der Indianer rief ihnen etwas zu.
Alain sah zu ihm. „Was hat er?“
Enriqu gestikulierte und rief erneut etwas.
Und im nächsten Moment begann die Schiffshülle innerhalb des blauen Kreises zu quirlen, dann sich zu konvulsivischen Wellen zu formen. Wiederum einen Moment später wurden sie alle wie von einer unsichtbaren Hand angehoben. Ein kollektiver Aufschrei – dann waren sie im Inneren. Das Innere war ein gewölbter leerer Raum, der in einem weichen Licht lag, dessen Ursprung unbestimmt blieb. Die Wände waren völlig glatt, durchzogen von irisierenden Schlieren, die Alain an Öl auf einer Pfütze erinnerte. Alain ließ seinen Lampenstrahl darüber wandern. Die kleinste Bewegung ließ einen stahlblauen Wasserfall entstehen. Alain grübelte. Lichtbeugung als Erklärung für dieses Phänomen schied aus, denn man sah dieses pulsierende Blau auch dann über die Wand rollen, wenn der Einfallswinkel gleich blieb. Streng genommen war dazu überhaupt kein Licht nötig.
Er sah sich um. Keinerlei Steuersysteme, keine Monitore oder Kontrollpaneelen. Keine Sitzschalen. Nichts. Aber das änderte sich. Sie konnten sehen, wie vor ihren Augen etwas entstand, das einer überdimensionierten
(Seifenblase)
Kugel glich. Sie blähte sich auf, so schnell, als füllte man einen Ballon mit Preßluft. Die Blase hoch und breit genug, um einen Menschen aufzunehmen, und prallgefüllt mit einer blau schimmernden Flüssigkeit. Die Blasenhaut schien eine Art sphärisches Feld und glich einer dünnen Wasserschicht mit so hoher Oberflächenspannung, daß trotz Schwerkraft kein Tropfen abfiel. (Sir Isaac Newton wäre beeindruckt.)
Doria, magisch angezogen, ging zu der Blase und berührte sie. Die Oberfläche schlug ein paar flache Wellen, und diesmal hielt Doria niemand zurück.
Nur Mut
, sagte sie sich. Ihre Hand durchstieß die Blasenhaut und griff in die Flüssigkeit. Sie war viskos, weder heiß noch kalt. Doria hörte etwas, einen Gesang wie aus großer Ferne.
Es ist das Schiff
, wußte sie schlicht, zögerte nicht länger und schob ihren ganzen Körper hinein.
Das ist wie...
Es war wie das Tauchen in stillen Gewässern. Aber die Substanz, in die sie tauchte, war kein Wasser, denn Doria wurde nicht naß. Angst vor dem Ertrinken hatte sie nicht. Wie wassertretend sah sie sich um. Dort gab es Sterne. Sie waren überall. Doria, im Leben niemals so wach wie jetzt, begann, sich zu orientieren.
Aldebaran. Kassiopeia. Sirius. Orion. Wega. Das Sternbild des Schwans…
Das Weltall drehte sich um sie herum. Sternennebelarme griffen nach ihr. In Gedanken, mental-induktiv, rief sie Aquila auf, das Sternbild des Adlers. Es erschien. Altair strahlte. Der Ausschnitt schrumpfte, bis Doria wieder das Große Ganze sah: Eismonde, Neutronensterne, Meteoriten, Supernovae. Ein hellgrauer Gasriese von dreifacher Jupitergröße. Es gab faszinierende Beugungseffekte und Helligkeitsfluktuationen. Planeten rasten um Sonnen, Sonnen durch Galaxien, diese mit astronomischer Geschwindigkeit durch das expandierende All. Ein kosmisches Ballett, die Transmission der Himmelsmechanik – ein Behelfsuniversum in Kleinstformat ... oder das echte Universum? Perspektive und Empfindung waren beispiellos.
Seit Jahrhunderten erforschen, benennen, quantifizieren wir das Universum, sperren es in immer neue Gleichungen, dennoch haben wir bisher kaum die Oberfläche dessen angekratzt, was es wirklich ist. Ich fürchte, wir beginnen bei null.
Sie hatte ein intuitives Verständnis dessen, was zu tun wäre. Etwas mobilisierte eine uralte, angeborene Kraft; sie ging Algorithmen durch, die dem Verstand normal nicht zugänglich und viel komplexer waren, als alles bewußte höhere Rechnen. Für Doria nahmen sie sich nicht anders aus als Grundrechenarten. Sie war nun eins mit dem Schiff. Das Schiff war nicht nur Schiff. Daten fluteten ihr Bewußtsein. Astrogation. Fixsternpositionen. Ganze Sternatlanten.
Ich bin hier draußen, allein; Billionen Meilen entfernt.
Doria tat einen imaginären Graulzug, und die Oortsche Wolke zoomte heran. Doria spürte intelligente Energien im Inneren einer Riesensonne – nein, sie spürte sie nicht; das Sternenschiff zeigte es ihr. Sie dachte:
Je tiefer man lotet, desto tiefer wird das Meer.
Sie riß sich von dem Ausblick los. Durch die Blase sah sie Alain, Eiko und Enriqu ihrerseits Blasen betreten.
Sie gewahrten etwas durch ihre Augen blicken. Sie waren allein.
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