Kairos (German Edition)
geschehen, wenn wir die Leute jetzt informieren? Sag’s mir“
„Es ist nicht wichtig, wie die Leute regieren. Sie werden so reagieren, wie es ihrer Natur entspricht, und wir können es nicht ändern. Verstehst du nicht? Die Menschen sind außer sich vorAngst. Dieses Ding am Himmel erschreckt sie. Dann müssen sie erfahren, daß man sie belogen hat. Ich an ihrer statt wäre wütend. Es geht darum, keine Täuschungsmanöver zu fahren – nicht jetzt. Als Präsident stehst du für gewisse Werte, jetzt besonders.“
„Wirklich? Werte...“ Er betonte den Terminus wie eine Verunglimpfung. „Welche Werte meinst du?“
„Stell dich nicht dumm, Aron, nicht bei mir.“
„Ich mein’s ernst.“
Sie blies die Backen auf und ließ die angestaute Luft langsam entweichen. „Ehrlichkeit, Vertrauen. Humanität. Dinge wie Pflichterfüllung.“
„Ich bitte dich, jetzt bist du naiv.“
„Bin ich das? Hörte ich dich nicht mal sagen, wir alle trügen große Verantwortung?“
„Und jetzt denkst du, ich komme dieser Verantwortung nicht nach, weil ich den Menschen ein langes Leiden erspare?“
„Du betrügst sie um die Wahrheit.“
Plötzlich sprang er auf und stellte sich gebückt vor sie. „Ich betrüge sie nicht, Julie. Die Dinge liegen nun einmal so. Ich kann nichts daran ändern. Die Zeiten sind eben extrem.“
„Die Zeiten – aber wir nicht.“
„Hör schon auf; glaubst du, mir gefällt es, so zu handeln? Denkst du das?“
„Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll, Aron. Ein Präsident Berg, wie ich ihn kenne – liebe –, hätte die Menschen niemals in dem Maß getäuscht. Und wenn sie es herausfinden? Demütigung ist ein furchtbares Motiv.“
„Wir müssen die Kontrolle behalten.“
„So verlierst du sie. Und wenn sich die Menge erst in Bewegung gesetzt hat, wird es unmöglich sein, sie aufzuhalten. Angst und Zorn sind immer noch verschiedene Dinge.“
„Sie müssen es nicht herausfinden...“
Monterrey lachte unlustig. „Nein, sie müssen ihre Augen nicht aufmachen“, spottete sie. „Warst du in letzter Zeit im Netz?“ Sie seufzte enerviert. „Selbsternannte Cyberevangelisten; wirrköpfige Untergangspropheten; die üblichen Querulanten in Reihen der Lobbys und Opposition; die Hardliner vom
SpaceScienceMagazine
oder Anhänger verquerer Weltraumreligionen. Sie wettstreiten förmlich um die aberwitzigste Verschwörungstheorie.“
„Nichts als unsinniges Geschwafel.“
„Nein, sondern ein ganz normales Verhalten. Die Leute regieren auf ein Informationsdefizit. Sie sind verunsichert. Ein Grund mehr, zu ihnen zu sprechen. Eine offizielle Stellungnahme und Informationskampagne über Deimos, die Botschaft und unsere Reaktion...“
„Unsere Reaktion? Du tust, als wüßtest du, was zu tun wäre. Das tust du nicht. Und ich auch nicht. Also schweigen wir besser.“
„Die Folgen sind unabsehbar. Schlimme Gerüchte machen bereits die Runde.“
„Die nicht den Atem wert sind, den es braucht, sie auszusprechen.“
„Bist du dessen sicher?“, fragte sie rhetorisch. „Ich sehe dir an, daß du es nicht bist. Die Phantasten bestimmen, was die Leute glauben, und nur, weil du ihnen nichts entgegensetzt.“
Er warf die Arme hoch. „Was soll ich denn sagen? In ein paar Tagen fallen Außerirdische über uns her, wenn nicht vorher andere Außerirdische kommen, um uns zu retten; egal, wenn es vorbei ist, wird die Erde Schlacke sein. Ein paar von uns fliehen mit einem Sternenschiff aus einer Dschungelpyramide auf einen anderen Planeten, um dort die Keimzelle einer neuen Menschheit zu bilden.“ Er starrte sie an. „Das?“
„Es wäre die Wahrheit.“
„Manchmal ist Wahrheit die falsche Option.“
Sie seufzte. „Es wird ein großer Schock für Millionen Unschuldige sein, die nicht wissen, was ihnen droht“, sagte sie. „Gerade gehen sie ihrem Leben nach, im nächsten Moment trifft sie das Weltende.“
„Du mußt nicht zynisch werden.“
„Das bin ich nicht. Die Dinge stehen so.“
„Okay.“ Er atmete langsam aus. „Was würde es ändern, wenn sie die Wahrheit erführen?“
„Am Ergebnis nicht viel, Aron. Da stimme ich zu. Aber wenn die Menschen Abschied nun nehmen wollen? Von ihren Lieben, ihrem Leben? Wenn sie ihren Frieden machen wollen, mit sich und anderen? Kannst du ihnen wirklich diese Möglichkeit nehmen?“
Er hatte keine Antwort. Monterrey blieb reglos sitzen und starrte vor sich hin.
„Gottverflucht, was soll ich nur tun?“ Er stand da, rieb sich die Stirn. „Ich
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