Kaiserhof Strasse 12
abstammst?«
Wie war das möglich, daß ausgerechnet Vatermörder hinter unser Geheimnis gekommen war? Sollte er es wirklich herausgekriegt haben? Hatte die Stunde der Wahrheit geschlagen? Ich stammelte: »Ich weiß es nicht.«
»Du solltest es aber wissen. Meinst du nicht auch?«
»Ja, schon.«
»Dann will ich es dir sagen: vom Tollen Christian.«
Ich atmete tief auf. In dem Augenblick war es mir tausendmal lieber, vom Tollen Christian abzustammen, als von Moissee Rabisanowitsch aus Nikolajew.
»Vom Tollen Christian«, wiederholte er mit Nachdruck. »Das war der berüchtigte Herzog Christian von Braunschweig, der schlimmste Landsknechtführer im Dreißigjährigen Krieg. Wo immer er mit seinem wüsten Haufen hinkam, plünderte und tötete er und setzte den Bauern den Roten Hahn aufs Dach. Und einer deiner Vorväter muß zum Haufen des Tollen Christian gehört und sich beim Brandschatzen besonders hervorgetan haben. Dein Vorfahr also, der zum Schluß alles angezündet hat, dem gab man den Spitznamen >der Senger<. - Kapiert?« Ich nickte. »Siehst du, so hat jeder Familienname seine Geschichte, und die kann oft sehr interessant sein.«
Von dem Tag an bis zum Ausscheiden aus der Schule war ich für den Rektor der »Tolle Christian«, und auch meine Klassenkameraden riefen mich so. Und das alles nur, weil Papa den deutschen Umlautvokal Ä nicht schreiben konnte.
Das mangelhafte Deutsch meines Vaters war schuld an einem weiteren Mißverständnis, diesmal auf dem Frankfurter Standesamt, als er 1917 seine eben geborene Tochter anmeldete. Die Familie, also Mama, hatte beschlossen, die erste Tochter sollte den guten deutschen Namen Paula bekommen und als zweiten den an die Errettung der persischen Juden erinnernden stolzen Namen Esther.
Esther war meinem Vater geläufig, mit Begeisterung hatte er vor vielen Jahren an Purim, dem Fest der Kinder, den Grager (: Holzknarre zum Drehen, wie man sie ähnlich auch noch bei der alemannischen Fastnacht benutzt.) gedreht, diesen wunderbaren Krachmacher, wenn der Name des Despoten Haman ausgerufen wurde. Dieser hatte die persischen Juden töten wollen, was ihm aber dank der schlauen Esther nicht gelang. Esther anzugeben, war also für meinen Vater kein Kunststück. Der Name Paula jedoch hatte wieder etwas Tückisches an sich, den Doppelselbstlaut au. Aber Papa war gewarnt. Diesmal sollte ihm ein ähnlicher Fehler wie das E bei Senger nicht unterlaufen. Er überlegte, welche Vokale hintereinanderstehen mußten, damit man »Paula« sagen kann, und schrieb fein säuberlich: p a u. Da stockte er. Zwei Vokale, nur zwei? Wo die Deutschen doch so penibel sind und alles korrekter noch als korrekt machen? Papa wurde unsicher. Er durfte nichts vergessen, das wußte er. Da erinnerte er sich an das O. Auch das O klingt gut. Wenn man es ausspricht, muß man den Mund spitzen wie beim Singen. Wie konnte es da falsch sein, es einfach dazuzunehmen? Etwas zu viel ist immer noch besser als etwas zu wenig, dachte Papa. Deshalb schrieb er in seiner gestochen scharfen Schrift als Vornamen seiner neugeborenen Tochter pauola.
Und so steht noch heute im Paß meiner Schwester: pauola esther senger.
Auch das ist einer dieser merkwürdigen, unerklärbaren Zufälle, daß in allen amtlichen Dokumenten meiner Schwester ihr zweiter Vorname Esther angegeben war, ein so typisch jüdischer Vorname wie Sarah, Golde oder Rahel. Doch kein Mensch hat in den zwölf Jahren einmal danach gefragt, niemand ihn beanstandet oder mit Fingern auf die Trägerin dieses Vornamens gedeutet und gesagt: »Das muß doch eine Jüdin sein.« Das Ausfüllen jedes amtlichen Formulars, das jährliche Verlängern des Fremdenpasses und der Arbeitsgenehmigung von Paula brachte uns wegen dieses zweiten Vornamens fast zur Verzweiflung, Mama stöhnte, Papa rang die Hände, und einer von beiden sagte dann regelmäßig: »Wenn das nur gutgeht!«
Unser Biologielehrer bestaunte den Sengerschen Stammbaum, in dem sich die ganze Sippe väterlicher- und mütterlicherseits zwischen Don und Wolga aufhielt, in dem Gebiet, wo die Wolgadeutschen wohnen, natürlich mit Ausnahme unserer Familie, die es nach Frankfurt verschlagen hatte.
Auf seine Frage, was denn eigentlich meine Eltern veranlaßt habe, die Geborgenheit der Wolgadeutschen Heimat aufzugeben und sich in Frankfurt niederzulassen, war ich von Mama nicht vorbereitet und konnte ihm darum auch keine vernünftige Antwort geben. Das machte aber nichts. Jedenfalls imponierte ihm der
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