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Kaiserhof Strasse 12

Kaiserhof Strasse 12

Titel: Kaiserhof Strasse 12 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valentin Senger
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Stammbaum, und er studierte ihn sehr genau.
    Als er einige Wochen später mit uns die verschiedenen arischen Rassen besprach, nahm er auch an einigen Schülern Schädelmessungen vor. Dazu benutzte er ein seltsames Instrument, das wie ein großer, an den Enden stark gekrümmter Zirkel aussah, mit einem verstellbaren Zapfen in der Mitte. Außerdem hatte Bio-Vollrath noch einige Schautafeln und Tabellen mitgebracht.
    Mich holte er als ersten vor die Klasse. An mir wollte er seine Fähigkeit in der Schädelbestimmung demonstrieren. Er drückte seinen krummen Zirkel an meinen Kopf, mal von vorne nach hinten, mal von links nach rechts, stellte jedesmal den senkrechten Stift nach, schrieb Zahlen auf, und die Klasse folgte aufmerksam dem ungewöhnlichen Tun. Hierauf begann er zu rechnen und in den Tabellen nachzuschlagen, die er, eine nach der anderen, vom Katheder hochnahm und dicht an seine dicken Brillengläser hielt. Schließlich drehte er sich zur Klasse und verkündete triumphierend: »Senger - dinarischer Typ mit ostischem Einschlag, eine kerngesunde arische Rasse.« Bio-Vollrath war mit sich und dem Ergebnis seiner ersten Schädelmessung vollauf zufrieden. Kein Wunder, er hatte Mamas Stammbaum gut studiert.
     

Der Koffer
    Warum mir kein einziger der vielen Stolpersteine, die im Wege lagen, zum Verhängnis wurde, weiß ich nicht, ich habe auch keine Erklärung dafür, weshalb nicht eine der Todesfallen über mir zuschlug, ich habe nicht gezählt, wie oft ich aufatmend sagte: »Das ist nochmal gutgegangen.« Zitternd habe ich die Gratwanderung fortgesetzt, ohne Illusionen darüber, daß irgendwann einmal der Absturz kommen mußte, der nicht nur mein Schicksal, sondern auch das der ganzen Familie besiegeln würde. Und so hatte Mama es leicht, die Zügel straff zu halten und damit jedes Ausscheren zu verhindern. Nicht mit Lautstärke oder Gezeter lenkte und bestimmte sie, sondern mit einer leisen Selbstverständlichkeit, die von vornherein jeden Widerspruch ausschloß.
    Mama erzog uns Kinder. Papa half ihr dabei, machte die Kleinarbeit, spielte mit uns Mensch-ärgere-dich-nicht und ging mit uns spazieren. Mama traf die Entscheidung über Schulbesuch und Schulabschluß; und wenn sie die Mittlere Reife als genügend für Paula, Alex und mich betrachtete, pflichtete Papa ihr selbstverständlich bei und half uns bei den Hausaufgaben. Wie oft sagte er zu einem von uns: »Was willst du noch? Hast doch gehört, was Mama gesagt hat!« Oder: »Oj wej, wenn das Mama erfährt!« Er liebte sie über alles. Nie habe ich ein böses oder auch nur bitteres Wort von ihm über Mama gehört. In der Zeit, als ihr Herz den Aufregungen des Versteckspiels nicht mehr gewachsen war und immer schwerer und unregelmäßiger schlug und kein Arzt ihr helfen konnte, pflegte und umsorgte er sie über Monate und Jahre, bis zu ihrem letzten Atemzug.
    So wie Papa konnte nur ein Jude sein. Oder: nur ein Jude konnte so sein wie Papa.
     
    Der politische Freundeskreis um Mama hatte bis zum Jahr 1937 gute Kontakte zu den nach Frankreich emigrierten Genossen. Doch dann gab es offenbar einige Schwierigkeiten. Ein Kurier sollte nach Paris fahren, um irgendwelche Unterlagen dorthin zu bringen und eine Verabredung zu treffen.
    Mama entschied, ich solle diesen Kurierdienst übernehmen, offenbar weil zu diesem Zeitpunkt niemand sonst zur Verfügung stand. Sie erklärte mir, daß ich ja in keiner Liste von politisch Verdächtigen geführt werde und bei den Tausenden von Reisenden, die täglich die Grenze passierten, nicht auffallen könne.
    1937 war es noch ohne große Komplikationen möglich, ins Ausland zu reisen, selbst mit einem Fremdenpaß. Die in Toulouse lebende Nichte Mamas, Taja Baumstein, schickte mir auf unsere Bitte eine formelle Einladung. Diese legte ich dem Polizeipräsidium vor und erhielt anstandslos ein Ausreisevisum. Das Einreisevisum des französischen Konsulats machte ebensowenig Schwierigkeiten.
    Zwei Wochen später war ich reisefertig. Zur gleichen Zeit fand in Paris die Weltausstellung statt, zu der auch viele Deutsche fuhren. Um so unauffälliger konnte ich die Reise antreten. Ich brauchte mich nur im Frankfurter Hauptbahnhof in den D-Zug zu setzen und am Gare de l'Ouest auszusteigen, ohne Angst vor Zugkontrollen, denn ich hatte einen ordentlichen Paß, korrekte Ein- und Ausreisevisa und eine richtige Verwandte als Reiseziel.
    So einfach war das. Die paar Briefe und ein kleines Päckchen, die man mir mitgab und die ich gut versteckte,

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