Kaiserhof Strasse 12
jedesmal, wenn er vorbeikam, besonders scharf und mißtrauisch. Vielleicht könnte er die junge Frau neben mir für eine Zwangsarbeiterin halten, grübelte ich. Die durften nie ohne Bewachung ausgehen und mußten um diese Zeit längst in ihren abgeschlossenen Massenquartieren sein. Obwohl sie ganz anders gekleidet war als die russischen und polnischen Frauen aus den Lagern, hatte ich Angst um sie und wagte deshalb auch nicht, mit ihr zu sprechen. Viel zu schnell war wieder Entwarnung.
Wir gingen die menschenleere Zeil entlang, unterhielten uns und hatten es nicht eilig. Als sie in der Nähe der Hauptwache gegen ein an der Hauswand abgestelltes Fahrrad stieß, das in der Finsternis nur schwer erkennbar war, hielt sie sich an mir fest. Am Opernplatz ergab es sich von selbst, daß ich ihr anbot, sie auch noch bis in die Beethovenstraße zu begleiten, weil sie unmöglich allein durch die dunkle, baumbestandene Bockenheimer Landstraße gehen könne. »Sehr gern«, sagte sie und hängte sich bei mir ein. Auf der Höhe der Freiherr-vom-Stein-Straße küßten wir uns das erste Mal. Ich verlangsamte den Schritt, damit ich sie auf der kurzen Strecke bis zur Beethovenstraße noch möglichst lange riechen und spüren und möglichst oft küssen konnte.
Sie sagte, daß sie Ionka Michailowa Dragowa heiße und daß ich sie Ionka nennen dürfe.
Wir hatten beide noch keine Lust, uns zu trennen. Darum setzten wir uns in dem geschützten Anlagenkarree des Beethovenplatzes auf eine Bank, ganz eng aneinander, denn die Märznacht war kalt und wir hatten uns noch viel zu erzählen. Und dann liebten wir uns, lange nach Mitternacht, auf der Bank im Anlagenkarree des Beethovenplatzes.
Ionka war freiwillig nach Nazideutschland gekommen, ein Umstand, der mich Anfang März 1942 hätte mißtrauisch machen müssen. Sie war, so sagte sie, einem Freund gefolgt, der in Frankfurt seine Sprachstudien fortsetzen wollte. Der Freund hieß Michael Todoroff. Auch an diesem Abend war sie bei ihm gewesen. Seine Wohnung lag in der Straße Am Tiergarten, direkt hinter dem Zoo. Sie hatten sich gestritten, und Ionka war wütend aus seiner Wohnung fortgelaufen. Nicht einmal das Geld für ein Taxi hatte sie bei sich.
»Und da traf ich dich, welch ein Glück.« Das sagte sie mir einige Tage danach und küßte mich.
Als ich Monate später Genaueres über den Streit mit ihrem Freund erfuhr, wußte sie schon alles von mir. Ich hatte mich ihr durch meine schwatzhafte Verliebtheit ganz in die Hände gegeben, ohne zu bedenken, daß damit mein und meiner Familie Leben wieder einmal in große Gefahr gekommen war.
Wir liebten uns weiter auf der Bank in dem kleinen geschlossenen Anlagenviereck. Andere Plätze gab es für uns nicht, das heißt, nicht in meiner Vorstellung. Oft fragte mich Ionka, ob ich es nicht fertigbrächte, irgendwo einen Platz zu finden, wo wir ein einziges Mal Zusammensein könnten ohne Wind und Regen, ohne Voyeure und zufällig vorüberkommende Passanten. Aber ich fand keinen Ausweg. Die Kontrollen in den Hotels waren streng; Stundenhotels gab es wohl, aber ich kannte keine, und selbst wenn ich eine Adresse gehabt hätte, wäre es eine unverzeihliche Dummheit gewesen, dorthin zu gehen. Mama würde nie erlaubt haben, daß wir in der Kaiserhofstraße übernachteten, ich wagte auch nicht, sie darum zu bitten. Als wir einmal, das war viel später, den Versuch machten und Ionka verabredungsgemäß abends etwas länger bei uns blieb, hatte Mama sie ganz entschieden nach Hause geschickt. In Ionkas Dachstube in der Beethovenstraße konnten wir auch nicht zusammen schlafen, denn ich hätte, um dorthin zu gelangen, durch das Haus ihrer Arbeitgeber gehen müssen, und das war nicht möglich.
Wir froren, ließen uns naßregnen, waren von jedem Vorübergehenden gestört, hatten immer Angst vor Polizeistreifen, ließen uns eines Nachts die Handtasche mit Ionkas Ausweispapieren stehlen, und weil wir immer warten mußten, bis niemand mehr am Beethovenplatz vorbeikam, waren wir tagsüber hundemüde. Trotz allem waren es Stunden des Glücks für uns.
Von ihrem Freund, sagte Ionka, habe sie sich getrennt. Dennoch wußte sie, daß er eine andere Wohnung bezogen hatte; später, daß er für vierzehn Tage nach Sofia gefahren war, um seine Eltern zu besuchen.
Natürlich wollte ich wissen, welche politischen Ansichten Ionka hatte, wie sie zu Hitlerdeutschland stand. Darum fragte ich sie eines Tages, als wir im Palmengarten spazierengingen:
»Weißt du eigentlich,
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