Kaisertag (German Edition)
Papiertüte mit dem Schriftzug der Buchhandlung Weiland vor Friedrich Prieß auf den Schreibtisch.
»Schön, dass du inzwischen gebadet hast und wieder menschlich riechst«, sagte sie. »Ich habe dir die Buddenbrooks besorgt, genau wie du wolltest. Zu unserem Glück haben sie die Taschenbuchausgabe ständig vorrätig.«
»Sollte man in Lübeck schließlich auch erwarten dürfen, nicht? Außer Marzipan und Thomas Mann habt ihr hier ja nicht viel. Wenn eines von beiden ausfällt, bleibt ziemlich wenig übrig«, entgegnete Prieß grinsend und holte das Buch aus der Tüte. Den Umschlag zierte ein sepiafarbenes altes Foto von der Rokokofassade des Buddenbrookhauses. Darüber stand in luftig geschwungener Schreibschrift der Titel des weltberühmten Werkes.
»Ich will endlich wissen, was in diesem Brief steht, den ich mir unter echter Lebensgefahr von Lämmle erkämpfen musste. Wenn ich Rabenackers Erklärungen richtig verstanden habe, ist der Code problemlos zu entschlüsseln, wenn man nur das richtige Buch besitzt.« Er nahm die Agfagraphien des chiffrierten Schreibens in die linke Hand und öffnete mit der rechten den dicken Roman. Der noch steife Buchrücken knarrte beim ersten Aufschlagen, und Prieß musste die Seiten herunterdrücken, damit sie nicht sofort wieder zuklappten.
»Viel Erfolg«, wünschte ihm Alexandra. »Vielleicht sitzt du ja immer noch dran, wenn ich heute Nacht zurückkomme. Dann kannst du mir gleich mitteilen, was drinsteht.«
»Du willst wegfahren?«
»Ja. Nach Hamburg, zu Franziska Diebnitz.«
Irritiert ließ Prieß das Buch los, das auf der Stelle wieder zufiel. »Zu Franziska Diebnitz? Aber wieso denn?«
»Bist du manchmal wirklich so ein Klotz, oder tust du nur so?«, stöhnte sie. »Herrgott, ihr Mann hat sich selbst erschossen, um sie zu schützen! Und das, obwohl ihre Ehe wohl nicht gerade das war, was man harmonisch nennt. Sie hat ein Recht, das zu erfahren, oder etwa nicht?«
»Hm … ja, natürlich. Denk nur daran, ihr nicht zu viel zu verraten. Von der ganzen Verschwörungssache darf sie nichts wissen.« Dann betrachtete er sie noch einmal, wie sie in ihrer blauen Polizeiuniform vor ihm stand, und setzte mit fragendem Blick hinzu: »Aber … willst du dich nicht vorher umziehen?«
»Wozu?«, entgegnete Alexandra, als sie sich bereits zum Gehen wandte. »Ich muss doch nicht verheimlichen, dass ich trotz allem über die Barrikaden klettern konnte. Und schon gar nicht gegenüber einer Frau, der es wohl ähnlich ging. Bis später, Fritz.«
* * *
Das Haus in der schmalen Straße zwischen dem Jungfernstieg und der erdrückend aus Sandstein aufgetürmten, dunkel verfärbten Neorenaissance-Pracht des Hamburger Rathauses war ein langweiliger Dutzendbau aus den fünfziger Jahren, dekoriert mit massengefertigten Zierelementen aus Gussbeton. Die spröden Verzierungen im pseudoklassizistischen Stil, den Kaiser Wilhelm III. so geliebt hatte, sollten wohl repräsentativ sein, wirkten jedoch nur aufgesetzt und plump; zugleich waren sie aber auch nicht geschmacklos genug, um aufzufallen. Alles in allem ein unspektakuläres Haus, wie man es in jeder deutschen Großstadt finden konnte. Wer es nicht wusste, hätte bestimmt nicht vermutet, dass ausgerechnet dieses einfallslose Gebäude eine der ersten Adressen für moderne Kunst war. Ein schlichtes Schild neben dem Eingang war der einzige Hinweis auf die Galerie Kleio.
Auch Alexandra hatte sich zunächst vom banalen Äußeren täuschen lassen und sich gefragt, ob der herausragende Ruf der Galerie nicht doch eher auf Übertreibung beruhte. Doch ihre Zweifel lösten sich rasch auf, denn hinter der Eingangstür änderte sich das Bild völlig. Lang gezogene, ineinander übergehende Farbflächen zogen sich wie bunte Kometenschweife ohne erkennbare Ordnung über die sonst blendend weißen, rau verputzten Wände; den Fußboden bedeckte ein abstraktes Mosaik aus unregelmäßig geformten roten und grauen Steinplatten. An der hohen Decke hingen Lampen aus verchromtem Stahl, von denen keine zwei gleich waren. Der Kontrast zur verkrampft historisierend geschmückten Fassade hätte nicht größer sein können, und vom übertrieben ornamentreichen Neo-Jugendstil, dessen üppig verschlungene Ranken augenblicklich gerade als Nonplusultra großbürgerlicher Raumgestaltung galten, war dies alles ohnehin provokant weit entfernt.
Die Räume waren angefüllt mit Menschen, manche in förmlicher Abendgarderobe, andere eher leger oder auch dezent
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