Kaisertag (German Edition)
mehreren mutigen kleinen Zeitschriften in Norddeutschland veröffentlicht wurden und die besonders bei der Jugend populär waren, entstanden wohl kaum als Ausdruck hochverräterischer Absichten. Die anarchischen Abenteuer eines Klempnerlehrlings, dessen Meister stets als unfähige Witzfigur dargestellt wurde, waren völlig harmlos, so viel hatte Alexandra aus dem Material, das ihr vorlag, ersehen können. Dennoch waren diese Zeichnungen manchen Leuten ein Dorn im Auge; sie sahen die Autorität der Lehrherren gefährdet und witterten in den Geschichten eine gefährliche virulente rebellische Gesinnung. Inzwischen aber wusste Alexandra, welche Art von Menschen es störte, wenn es jemand wagte, sich gegen die althergebrachten Verhältnisse zu stellen, und sei es nur, indem er sich über sie lustig machte.
»Muss ich nu in’n Knast?«, fragte der Zeichner niedergeschlagen.
Die Polizeipräsidentin dachte für eine Sekunde nach und gab dann zur Antwort:
»Nein. Jedenfalls vorerst nicht. Der Herr Reichsstaatsanwalt hat es sich ein wenig zu einfach gemacht, oder er ist zu überzeugt von der Respekt einflößenden Allmacht preußischer Behörden. Er hat sich nämlich damit begnügt, einen preußischen Haftbefehl zu erwirken, aber der ist nur für die Polizei des Königreichs Preußen verbindlich. Ich bin nicht verpflichtet, Sie in Gewahrsam zu nehmen, bevor ich nicht offiziell und ausdrücklich dazu aufgefordert werde. Damit« – sie wies auf die Akten – »bin ich streng genommen nur über Ihren Fall informiert worden.«
Feldmanns Miene hellte sich auf. »Das heißt, ich darf wieder gehen?«
»Ganz recht. Gehen Sie nach Hause und verhalten Sie sich ruhig. Sagen Sie Bescheid –«
»Beschoooiid«, lachte der langhaarige Zeichner.
Alexandra fragte sich kopfschüttelnd, von welchem Planeten diese kuriose Gestalt stammen mochte. Sie wollte weitersprechen, aber in diesem Moment klopfte es an der Tür, und noch bevor sie das »Herein!« ganz über die Lippen gebracht hatte, trat schon ein bleicher Polizist mit einem Schriftstück in das Büro.
»Diese Depesche ist eben per Fernschreiber eingetroffen, Frau Polizeipräsidentin«, meldete er. Sein atemloser Tonfall verriet, dass es sich nicht um gute Nachrichten handeln konnte.
Alexandra gab Wilhelm Feldmann zu verstehen, dass seine weitere Anwesenheit nicht vonnöten war, und entließ ihn mit einer kurz gefassten Verabschiedung. Dann, nachdem er den Raum verlassen hatte, nahm sie sich des Fernschreibens an.
Die Nachrichten waren nicht schlecht.
Sie waren schrecklich.
Vor nicht einmal zwei Stunden hatten dänische Terroristen außerhalb Lübecks einen Fahrzeugkonvoi der Reichsmarine überfallen, der die zweite deutsche Atombombe vom Physikalischen Forschungsinstitut zur Verschiffung nach Kiel bringen sollte. Über hundert Soldaten waren bei dem Kampf ums Leben gekommen, ein Admiral war durch einen Kopfschuss aus nächster Nähe buchstäblich hingerichtet worden. Und der Lastwagen mit der Waffe, die eine ganze Stadt in einer Sekunde vernichten konnte, war spurlos verschwunden.
»Das ist bedenklich. Höchst bedenklich!«
Während Alexandra ihm von dem Überfall auf den Militärtransport berichtet hatte, war Senator Frahm von seinem Schreibtischsessel aufgesprungen und ging nun unruhig in seinem Büro im Rathaus auf und ab; der dicke grüne Teppich verschluckte seine Schritte.
Er blieb stehen, blickte erst für einen Moment aus dem Fenster auf die Backsteinmauern und bizarren gotischen Strebebögen der Marienkirche. Dann sah er die Polizeipräsidentin an. »Sie haben zwei britische Maschinenpistolen zurückgelassen, steht in der Depesche?«
»Ja, und einen Berg Flugblätter, auf denen es heißt, sie würden die Bombe jemandem übergeben, der es verdient, sie zu besitzen«, bestätigte sie.
»Ich verstehe … bei Gott, das waren keine Dänen. Nein, wir beide wissen, wer das getan hat. War das nun schon die geheimnisvolle Operation Hamlet oder erst ihr Auftakt? Wie dem auch sei, mit dieser Untat wollen die Puppenspieler den Hass auf Dänen und Engländer zu einem neuen Höhepunkt treiben. Und ich fürchte, das wird ihnen auch gelingen.«
Der Senator nahm seine unruhige Wanderung durch den Raum wieder auf; tiefe Sorgenfalten gruben sich in seine Stirn.
»Die Ermittlungen haben schon begonnen«, sagte Alexandra, »aber die Lübecker Polizei ist daran nicht beteiligt. Der Überfall geschah zwischen Curau und Ahrensbök, also auf oldenburgischem Gebiet. Wir sollen
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