Kaisertag (German Edition)
das Schreiben vielleicht im Bett verfasst haben? Denkbar schien das immerhin. Doch als Prieß den Roman in die Hand nahm und durchblätterte, musste er feststellen, dass ausgerechnet die Seiten 553 bis 567 nur Illustrationen ostgotischer und byzantinischer Krieger enthielten. Enttäuscht warf er das Buch auf das Bett, wo es aufgeschlagen auf dem Kopfkissen landete, und machte sich daran, den Kleiderschrank zu untersuchen.
Nachdem er umgeben von ekelerregendem Naphthalingestank die Taschen der Anzüge und Uniformen nach außen gestülpt hatte, ohne dabei auf mehr als zwei vergessene Groschen, einen Taschenstadtplan und originellerweise ein Tütchen Brausepulver mit Orangenaroma zu stoßen, setzte er sich entnervt auf die Bettkante.
Ob sich dieser ganze Zirkus überhaupt lohnt? , fragte er sich. Ich seh das schon kommen, wir gehen hier mit leeren Händen wieder raus.
Prieß lehnte sich zurück und stieß dabei mit dem Ellbogen gegen das Buch vom Nachttisch, das er bereits ganz vergessen hatte. Er nahm es in die Hand und betrachtete das Umschlagbild, das in altertümlicher Schrift den Titel Ein Kampf um Rom und darunter einen rauschebärtigen blonden Recken zeigte, der mit dem Schwert in der Hand vor den Mauern der Ewigen Stadt stand und seine Augen kühn in die Ferne richtete.
Dass ein doch überdurchschnittlich intelligenter Mann wie Oberst Diebnitz bei der Auswahl seiner Literatur so wahllos war und selbst Felix Dahns verstaubtes Historienpanorama nicht verschmähte, entlockte Prieß ein trockenes Lächeln. Aber dann plötzlich fiel ihm etwas auf, dem er vorher überhaupt keine Beachtung geschenkt hatte. Auf dem Lesezeichen, einem achtlos abgerissenen und mit schwarzer Tinte verschmierten Stück Papier, standen gedruckte Wörter.
Zwischen den unregelmäßig zerlaufenen dunklen Flecken war am oberen Rand noch die Seitenzahl 228 erkennbar, und auch die ersten Zeilen ließen sich noch entziffern:
Zweites Kapitel
Zu Beginn des Jahres 1856, nach achtjähriger Abwesenheit, kehrte Christian Buddenbrook in die Vaterstadt zurück …
Der Papierfetzen stammte also eindeutig aus den Buddenbrooks . Doch wieso steckte gerade ein Teil dieses Romans als tintenfleckiges Lesezeichen in einem anderen Buch? Prieß überlegte kurz, und mit einem Mal sah er die Lösung klar und deutlich vor sich.
Inmitten der kniehohen Bücherstapel, die sie um sich herum auf dem Boden aufgeschichtet hatte, stand Alexandra und betrachtete Diebnitz’ kartonierte Ausgabe von Thomas Manns Familiensaga. Der Oberst konnte sein Schreiben unmöglich mit diesem Roman verschlüsselt haben. Schon das erste Aufschlagen hinterließ bei Taschenbüchern Spuren, und nach einiger Zeit bildete sich unweigerlich ein deutlicher Knick auf dem Rücken; doch dieses Exemplar sah noch immer aus, als käme es frisch aus der Druckerei, noch nie hatte jemand darin gelesen. Vermutlich hatte Diebnitz es gleich nach dem Kauf ins Regal gestellt und bis zu seinem Tod nicht mehr herausgenommen.
Damit stand fest, dass mit Lieferung der Buddenbrooks an Rabenacker der Buchhandlung ein Irrtum unterlaufen sein musste. Aber welches seiner vielen Bücher der Oberst denn nun tatsächlich benutzt hatte, wusste Alexandra immer noch nicht, obwohl sie schon Dutzende durchgesehen und mit den Zahlenreihen des Codes verglichen hatte.
»Ich hab’s!«, rief Prieß, der überraschend in das Arbeitszimmer gestürzt kam. »Hier ist die Antwort! Sind das die Buddenbrooks , die du gerade in der Hand hältst? Trifft sich gut! Schlag mal schnell Seite 228 auf.«
Alexandra zog irritiert die Augenbrauen in die Höhe. »Und wozu, wenn ich fragen darf?«
»Wirst du gleich sehen. Komm, schlag Seite 228 auf und sag mir die ersten Zeilen.«
Sie blätterte rasch durch den Roman und las dann vor: »Also, die Seite beginnt so: … gemalten Götterbildern auf ihren Sockeln von dem himmelblauen Hintergrunde ab. Und was soll das jetzt?«
»Genau was ich mir gedacht habe. Such doch bitte in den Seiten davor und danach, bis du einen Abschnitt findest der mit der Überschrift Zweites Kapitel und den Worten Zu Beginn des Jahres 1856 anfängt.«
Neugierig geworden blätterte Alexandra weiter und fand den gesuchten Absatz als Anfang der Seite 234.
»Woher hast du das gewusst?«, fragte sie erstaunt. »Erzähl mir jetzt nicht, du hättest ganz nebenbei diesen Wälzer auswendig gelernt.«
»Gott bewahre, Alexa. Nein, ich habe nur das hier gefunden.« Er zeigte ihr den schwarz befleckten
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