Kaisertag (German Edition)
sechzig Jahren angezettelt? Wie viele Menschen mit unerwünschten Ideen für immer zum Schweigen gebracht? Ja, wie viele waren überhaupt Opfer dieser Welt geworden, in der alles zu ewigem Stillstand verdammt war?
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie musste sich ablenken, um sich von den Wirbeln aus Wut und Depression loszureißen, die ihren Schädel schmerzen ließen. Alexandra stand auf und ging durch die Terrassentür in den Salon, wo sie die Edelholzflügel der Musiktruhe öffnete und das Radio anschaltete. Die Skala mit den Radiostationen von Lissabon bis Moskau glimmte in ruhigem, gelbem Licht auf, und es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Röhren des Empfängers warm waren. Dann rauschte Musik auf; ein großes Orchester spielte die Ouvertüre zu Ralph Siegels Operette Ein Mädel vom Lande .
Eigentlich konnte Alexandra den seichten, süßlichen Kompositionen Siegels nichts abgewinnen, doch momentan war ihr alles recht, was sie auf andere Gedanken brachte. Und die etwas einfallslosen, aber schwungvollen Walzerklänge waren dafür wie geschaffen, wiesen sie doch keine Ecken und Kanten auf, die dem Geist Angriffsfläche geboten hätten. Einen Augenblick lang überlegte Alexandra, ob sie nicht doch vielleicht einen anderen Sender suchen sollte; aber dann befand sie, dass diese entspannende Anspruchslosigkeit genau das war, was sie nun brauchte. Sie nahm ein Buch über die Tierwelt Afrikas aus dem Regal und ließ sich in einem Sessel nahe der offenen Tür zum Garten nieder.
Kaum hatte sie Platz genommen, da brach die Operettenmelodie abrupt ab, und ein Sprecher meldete sich mit den Worten:
»Meine Damen und Herren, sehr verehrte Rundfunkfreunde. Die Hamburger Funkstunde unterbricht ihr Programm auf Anweisung des Kriegsministeriums.«
»Jetzt ist es also so weit«, flüsterte Alexandra und ließ das Buch sinken. Sie wusste, was nun bevorstand.
»Es folgt eine Meldung, die aufgrund einer Verfügung des Herrn Reichskriegsministers von sämtlichen deutschen Rundfunksendern verlesen wird«, fuhr der Radiosprecher mit sonorer Stimme fort. »Das Kriegsministerium gibt bekannt: In einem Akt beispielloser Brutalität überfielen heute in den Morgenstunden Angehörige der illegalen reichsfeindlichen Vereinigung ›Freunde Jütlands‹ südlich Eutins eine Fahrzeugkolonne der Reichsmarine und entwendeten die Atombombe Großer Kurfürst , welche zur Verschiffung in den Pazifik nach Kiel überführt werden sollte. Die Dänen hinterließen neben einigen Waffen britischer Herkunft Flugblätter, auf denen sie die Absicht erklärten, die Waffe einer fremden Macht auszuhändigen. Insgesamt töteten die Terroristen einhundertacht Soldaten, von denen nach Angaben Überlebender viele ermordet wurden, nachdem sie sich ergeben hatten, so auch Konteradmiral Adalbert Petersen. Zur Stunde fehlt jeglicher Hinweis auf den Verbleib der Atombombe, deren unermessliche Zerstörungskraft ohne Vergleich ist. An den Grenzen wurden umfangreiche Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass die Dänen die Waffe unter keinen Umständen ins Ausland verbringen können. Der Botschafter des Königreichs Dänemark, das mit größter Wahrscheinlichkeit die sogenannten ›Freunde Jütlands‹ massiv unterstützt, wurde ins Außenministerium zitiert. Seine Majestät der Kaiser äußerte sich entsetzt und voller Abscheu über das niederträchtige Vorgehen der dänischen Terroristen. Seine Majestät hat Vertreter des Generalstabs und der Reichsregierung empfangen, mit denen er sich über angemessene Reaktionen auf dieses unbeschreibliche Verbrechen berät. Ohne Zweifel wird das Deutsche Reich den Urhebern dieser und anderer Bluttaten schon bald die verdiente Züchtigung erteilen, nach der sie nie wieder ihr hässliches Haupt erheben können. Gott schütze Deutschland und Seine Majestät, den Kaiser!«
Der Sprecher machte eine kurze Pause, um zu vermitteln, dass die Mitteilung damit abgeschlossen war. Die gespannte Stille währte kaum einen Atemzug lang, dann sagte er:
»Meine hochverehrten Damen und Herren, Sie hörten eine Meldung des Kriegsministeriums. Wir werden Sie, sollten aufgrund der genannten Ereignisse Nachrichten von Bedeutung eintreffen, selbstverständlich unverzüglich hiervon in Kenntnis setzen. Und nun setzt die Hamburger Funkstunde ihr Abendprogramm in verändertem Rahmen fort.«
Barsch dröhnten die Anfangstakte des Königgrätzer Marsches aus dem verdeckten Lautsprecher; die heitere Walzerseligkeit der Operette war in weite
Weitere Kostenlose Bücher