Kaisertag (German Edition)
Nacht an der Dechiffrierung von Diebnitz’ Schreiben gearbeitet, und als die Polizeipräsidentin früh am Morgen heimgekehrt war, konnte er ihr mit sorgenverhangener Miene den entschlüsselten Text präsentieren.
»Einfach unfassbar!«, wiederholte sie und überflog nochmals die Botschaft, um sicherzugehen, dass sie auch nichts falsch verstanden hatte. Doch die klar und nüchtern formulierten Sätze des Obersts blieben eindeutig:
Es hatte nie dänische Terroristen gegeben. Die ›Freunde Jütlands‹ waren nichts als ein Phantom. Alle Anschläge der vergangenen Monate waren in Wirklichkeit im Auftrag der Puppenspieler von Männern der Sonderbrigade ausgeführt worden mit dem Ziel, im Reich Hass gegen Dänemark und seinen Verbündeten Großbritannien zu schüren. Zugleich arbeiteten die Verschwörer nach Kräften daran, auch im Ausland die antideutsche Stimmung anzuheizen, besonders in England und Frankreich. Und wenn die Völker ausreichend aufgepeitscht wären, sollte Operation Hamlet folgen – die Ermordung des Kaisers durch einen angeblichen dänischen Attentäter. Die Kugel eines Scharfschützen sollte Wilhelm V. treffen, und das ausgerechnet während seines Aufenthalts in Lübeck. Das würde unweigerlich zur Kriegserklärung gegen Dänemark führen, die europäischen Bündnisse, die viele Jahre geruht hatten, würden aus ihrem langen Schlaf erwachen und den ganzen Kontinent zusammen mit großen Teilen des Erdballs in einen Krieg reißen. Für die Puppenspieler gab es keinen Zweifel, dass Deutschland und seine Verbündeten schnell und ruhmreich siegen würden. Sie sahen ihren Einfluss schwinden, mussten beobachten, wie sich trotz all ihrer Bemühungen die Welt langsam zu verändern begann. Doch der Triumph auf den Schlachtfeldern sollte nach ihrer Vorstellung das Ruder wieder herumreißen. Nach dem großen Sieg, mit dem sie fest rechneten, würden sie die Macht besitzen, um Deutschland und dem gesamten Globus bis in alle Ewigkeit ihr Idealbild eines nie endenden Jahres 1914 aufzuzwingen.
»Diese Leute sind … wahnsinnig. Einfach nur wahnsinnig!« Alexandra schüttelte angewidert den Kopf.
»Wir sollten Senator Frahm benachrichtigen«, sagte Friedrich Prieß, der ihr am Tisch gegenübersaß. »Bestimmt haben Rommels Leute das Schreiben inzwischen auch schon decodiert, aber sicher ist sicher.«
Hinter vorgehaltener Hand entfuhr Alexandra ein Gähnen; die Nacht war lang gewesen. Sie schenkte sich eine weitere Tasse dampfenden Kaffee aus der Porzellankanne ein und meinte: »Ich muss ihn ohnehin noch anrufen und ihm sagen, dass Wilhelmi nicht etwa von einem ertappten Dieb erstochen wurde. Gestern Nacht war er zwar mit dem Bürgermeister und einigen Amtskollegen gleich in die Marienkirche gekommen, aber da gab es keine Gelegenheit für mich, mit ihm zu reden. Er war keine Sekunde alleine.«
»Die Sache mit dem Pastor schmeckt mir nicht«, bemerkte Prieß. »Für mich sieht das alles so aus: Er war ein Puppenspieler, und aus irgendwelchen Gründen hat er sich mit seinen Freunden überworfen. Er war nun einer ihrer Feinde und wusste zu viel, das war ihm wohl klar. Er brauchte Schutz. An wen konnte er sich wenden, von wem wusste er mit völliger Sicherheit, dass er nicht an einen der vielen Gefolgsleute der Verschwörer geriet? Da kamst nur du infrage. Er konnte dich nicht ausstehen, weil du nicht in sein stockkonservatives Weltbild passtest, aber genau das machte dich für ihn zum Rettungsanker.«
Alexandra nickte. »Ja, zu dem Ergebnis bin ich auch in etwa gelangt. Aber die Puppenspieler waren schneller, obwohl sie bestimmt nicht einmal wussten, dass ich auf dem Weg zu Wilhelmi war. Nun wird sein Stellvertreter morgen neben dem Kaiser auf der Tribüne sitzen. Und soll ich dir was sagen? Besonders traurig bin ich nicht, dass es diesen Widerling erwischt hat.«
Prieß verstrich einen Löffel Erdbeermarmelade auf einer Scheibe kalten Toastbrots und sagte dabei: »Vielleicht habe ich ja zu melodramatische Vorstellungen … aber wenn in den alten Dixon-Hill-Filmen Humphrey Bogart einen Sterbenden fand, dann hat der immer mit dem letzten Atemzug noch was Wichtiges gesagt. Dumm, dass wir uns nicht in einem Film befinden, denn …«
»Warte mal, warte mal!«, unterbrach ihn Alexandra. »Er hat wirklich was gesagt, jetzt fällt es mir wieder ein. Wie konnte ich das bloß vergessen? Sekunde, wie war das gleich … die Puppenspieler bringen den Tod, der Mönch weiß alles und dann noch etwas, das sich ungefähr wie
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