Kaisertag (German Edition)
der Altstadt ansässigen Handelshäuser, und lasen die erst eine halbe Stunde zuvor mit dem Eilzug eingetroffene Mittagsausgabe des Hamburger Tageblatts . »Hören Sie sich das nur an, Herr Kollege!«, empörte sich einer von ihnen. »Hier steht: ›Der Hamburger Oberbürgermeister Dr. Helmut Schmidt hingegen warnte nach der Verlautbarung des Kriegsministeriums vor pauschalisierenden antidänischen Reaktionen und mahnte zur Besonnenheit.‹ Ist das nicht eine Schande?«
»Ganz meiner Ansicht«, bestätigte sein Gegenüber. »Dieser Schmidt ist sich nicht zu schade, dem eigenen Volk in den Rücken zu fallen und sich auf die Seite des Feindes zu stellen. Aber was will man auch von einem dieser elenden Sozialdemokraten erwarten? Da sieht man, wohin es führt, wenn der Pöbel sich seine Obrigkeit selber aussuchen darf. Abscheulich, dass einem solchen vaterlandslosen Gesellen gestattet wird, an der Spitze eines deutschen Staates zu stehen!«
Er hatte noch nicht völlig ausgesprochen, als sich am Tisch daneben drei Offiziere des Lübecker Regiments unvermittelt von ihren Stühlen erhoben. Der Ranghöchste, ein Hauptmann mit goldener Schützenschnur vor der Brust, trat auf den Mann zu, der eben über den Hamburger Bürgermeister hergezogen war, baute sich bedrohlich vor ihm auf und ließ ihn mit eiskalter Stimme wissen:
»Mein Herr, ganz gleich was Helmut Schmidt sagen oder tun mag, er ist auch Offizier. Sie haben einen Standesgenossen und somit auch mich und das gesamte Offizierskorps des Reichsheeres aufs Gröbste beleidigt. Ich fordere Satisfaktion.«
Der Mann wurde bleich; die Zeitung glitt ihm aus den Händen und fiel auf das Kopfsteinpflaster. Sein Kollege verschluckte sich an einem Bissen seines Mittagessens und hustete.
»Aber ich bitte Sie«, stotterte der Herausgeforderte, »das ist ein ganz unglückliches Missverständnis, und ich bin sicher …«
Doch der Hauptmann, flankiert von seinen beiden Kameraden, ließ sich nicht umstimmen. »Sie haben die Wahl der Waffen«, beharrte er. »Säbel oder Pistolen. Ihre Anmaßung verlangt nach Genugtuung.«
Inzwischen waren auch die Gäste an den umstehenden Tischen auf das Geschehen aufmerksam geworden und verfolgten es mit atemloser Spannung. Duelle waren durch Reichsgesetze streng verboten, doch bei manchen Offizieren galt der ungeschriebene Ehrenkodex ihres Standes, der keine Kompromisse kannte, mehr als die Paragraphen auf dem Papier. Offiziere, die sich in ihrer Ehre angegriffen glaubten und ihren Widersacher beim Duell verletzten, sogar töteten, hatten über lange Jahre auf verständnisvolle Richter und milde Urteile hoffen dürfen. Doch mittlerweile waren Duelle nahezu ausgestorben, denn die jüngeren Offiziere waren entweder nicht mehr empfindlich genug, um einen Zweikampf von jedem zu verlangen, durch den sie sich gekränkt fühlten, oder sie lehnten Duellforderungen verärgerter Kameraden einfach ab.
Anders als in früheren Zeiten musste man nämlich kaum noch um Ansehen und militärische Karriere fürchten, wenn man eine Herausforderung schlicht zurückwies, worin konservative Gemüter einen gefährlichen Verfall soldatischer Ehrbegriffe sahen, andere jedoch den längst überfälligen Sieg der Vernunft.
»Ich bitte Herrn Hauptmann um Verzeihung für meine unbedachten Worte«, stammelte der Mann und machte dabei ziellose, fahrige Gesten. »Bitte haben Sie ein Einsehen. Ich bin ungedient, nicht einmal beim Landsturm war ich, und kann weder schießen noch fechten. Nehmen Sie bitte meine aufrichtige Entschuldigung an …«
Der Hauptmann sah ihm für eine endlose Sekunde hart in die Augen. Dann meinte er abschätzig:
»Nun gut. Ich will meine Forderung zurücknehmen und Ihre Entschuldigung akzeptieren, weil Sie Zivilist sind.« Dabei sprach er das Wort Zivilist etwa so aus, wie ein mittelalterlicher Adliger Bauer gesagt hätte, um seine Verachtung auszudrücken.
Ohne weiteren Kommentar machten die drei Offiziere kehrt, ließen im Vorbeigehen ein Fünfmarkstück auf ihrem Tisch zurück und verließen das Straßencafé. Die zwei totenblassen Männer sackten auf ihren Stühlen in sich zusammen und wischten sich mit den Servietten den kalten Angstschweiß von der Stirn.
Yvonne Conway, die die ganze Szene teils amüsiert, teils mit Unbehagen verfolgt hatte, wandte sich wieder ihrem Kaffee zu. Der nüchtern denkende Hamburger Oberbürgermeister, der nichts auf Hurrageschrei gab, war ihr schon immer sympathisch gewesen. Dass ausgerechnet ein äußerst
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