Kaisertag (German Edition)
längst zurück sein müssen. Konnte er den Professor nicht überzeugen? Und was, wenn wir alle uns geirrt haben? Wenn Beinfeldt nun doch zu den Puppenspielern gehört? Oh Scheiße, ich darf nicht daran denken! Das darf einfach nicht sein. Fritz muss zurückkommen, damit wir … seltsame Vorstellung – damit wir heiraten können. Wer von uns beiden hat da wohl mehr Mut gebraucht? Er, um mich zu fragen … oder ich, um ja zu sagen?
Ein einzelner blecherner Glockenschlag tönte von St. Marien herüber und setzte sich über das vibrierende Gemisch der Geräusche ringsum hinweg. Nur Sekunden später folgte ein leiserer Schlag vom weiter entfernten Dom. Es war viertel nach zehn. Genau in diesem Moment, daran musste Alexandra jetzt denken, setzte sich auf dem Burgfeld am anderen Ende der Altstadt der Festzug in Bewegung. Die fünfundzwanzig aufwendig ausstaffierten Wagen mit lebenden Bildern aus der Geschichte Lübecks würden sich langsam durch die Straßen schlängeln und auf dem Hanseplatz eintreffen, sobald das Zeppelin-Geschwader der Luftflotte über die Stadt hinweggezogen war.
Falls es dann noch eine Stadt gibt , dachte Alexandra düster.
Sie blieb mit gesenktem Kopf stehen und überlegte. In einer Viertelstunde würde der Zug des Kaisers im Bahnhof eintreffen, und um zehn vor elf sollte sie, zusammen mit den Senatoren und anderen Honoratioren, Wilhelm V. willkommen heißen, wenn er auf dem Hanseplatz eintraf. Doch sie fand, dass sie weitaus Wichtigeres zu tun hatte, als vor Seiner Majestät einen Knicks zu machen. Sie beschloss, sich entschuldigen zu lassen. Das war zwar eine grobe Verletzung des Protokolls und der Etikette, und Oberst von Cholditz würde sicherlich schäumen, sollte er je erfahren, wie sie sich über seine sorgsam konstruierten Planungen hinwegsetzte; aber wenn sie sich auf ihre Pflichten berief und behauptete, wegen der Sorge um die Sicherheit des Kaisers unabkömmlich zu sein, würde man das als Begründung akzeptieren. Pflicht war ein Zauberwort, mit dem sich nahezu alles glaubhaft machen ließ.
Sie drehte sich um. Der Kies knirschte unter ihren Sohlen. Als sie aufschaute, sah sie vor sich das Panorama, das unzählige Ansichtskarten und Souvenirs zierte: das Holstentor, hinter dem sich die Reihen der Bürgerhäuser entlang der Straßen den Altstadthügel hinaufzogen, überragt von den stolzen Doppeltürmen der Marienkirche und dem Turm von St. Petri, an dessen Ecken sich die unverwechselbaren Ziertürmchen festkrallten.
Alexandra erinnerte sich, gelesen zu haben, dass der Stahlturm, auf dem man die erste Atombombe für den Test in der Omaheke-Wüste montiert hatte, nach der Explosion verschwunden, restlos verdampft war. Und dass der Wüstensand in weitem Umkreis zu Glas geschmolzen war. Was würde von Lübeck übrig bleiben, wenn diese gespenstische Gewalt die Stadt tatsächlich auslöschte?
Geisteskrank! Alexandra verzog angewidert den Mund. Einfach nur geisteskrank. Schon die Idee, so was zu bauen … nein, darauf können wirklich nur Männer kommen. Oh verdammt, wo ist Fritz? Er soll endlich zurückkommen, was macht er denn bloß?
Prieß gab auf. Alles Ziehen und Zerren an den Fesseln, alle Versuche, mit den Fingern die Enden der Paketschnur zu fassen, hatten zu nichts geführt, außer dass die Haut an seinen Handgelenken wund gescheuert war.
Auf dem Küchentisch, nicht einmal eine Armlänge entfernt, lag sein Degen. Er war nur ein Zierstück, aber die Klinge wäre allemal scharf genug gewesen, um die Fesseln zu durchtrennen. Prieß wusste genau, dass Sonnenbühl den Degen absichtlich dort liegen gelassen hatte, zum Greifen nah und trotzdem unerreichbar. Ein letzter kranker Scherz auf Kosten seines früheren Freundes.
»Du sollst in Scheiße ertrinken, du dreckiges Schwein! In Scheiße!«, schrie Friedrich und riss wutentbrannt an seinen Fesseln. Der aufflammende stechende Schmerz, der sich von seinen Händen aus die Arme hinauffraß, setzte seinem Ausbruch ein abruptes Ende.
Entmutigt ließ er den Kopf hängen. Er fragte sich, was das wohl für ein Gefühl sein würde, wenn ihm die Druckwelle der Explosion die Lungen zerfetzte. Der Gedanke daran ließ einen ätzend scharfen Geschmack in seinem Rachen entstehen.
Wieso habe ich bloß diesen gottverdammten Auftrag von der Diebnitz angenommen? Ich hirnloser Vollidiot habe mich von ihr einwickeln lassen und von dem Haufen Geld, den sie mir versprochen hat. Ich hätte den ganzen Mist hinschmeißen sollen, als ich gemerkt habe,
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