Kaisertag (German Edition)
verlangte, schockierte Prieß so sehr, dass er erst seine Stimme wiederfinden musste. »Aber … wenn ich nun weder meine Verlobte zwingen will oder kann, die Universität zu verlassen … und mich auch nicht von ihr trennen möchte …«
Der Älteste der drei starrte ihn mit durchdringendem Blick an. »Dann könnten wir Sie nicht länger unter uns dulden. Es kann keine Ausnahmen geben, wenn es um die Ehre geht. Aber so weit werden Sie es gewiss nicht kommen lassen. Sie geben als Offizier zu großen Hoffnungen Anlass. Wollen Sie das einer eigensinnigen Frau wegen aufgeben? Ersparen Sie sich die Schande und der Armee den Verlust.«
Friedrich Prieß rieb sich die brennenden Augen. Als er wieder aufsah, erschrak er. Die drei Männer hatten sich nicht verändert, und dennoch machten sie auf ihn jetzt den Eindruck lauernder Raubvögel. Es war, als könnte er durch die Masken aus pergamentartiger Haut hindurchsehen.
»Nein!«, schleuderte er ihnen entschlossen entgegen. »Ich werde mich Ihren lächerlichen Vorstellungen von Ehre nicht beugen! Lieber verlasse ich das Regiment. Sie werden mich nicht zwingen können, mich von Alexandra zu trennen!«
Kaum war das letzte Wort über seine Lippen gekommen, da verzerrten sich die Gesichter der drei Offiziere zu hasserfüllten Fratzen. Ihre Augen flammten rot auf und durchbohrten ihn mit Blicken wie glühende Bajonette. Und dann begann der gewaltige Reichsadler zu wanken. Prieß wollte fortlaufen, aber er konnte sich nicht von der Stelle rühren. Der Adler fiel wie eine nachtschwarze gigantische Wolke und begrub ihn unter sich …
Friedrich Prieß schreckte aus dem Schlaf auf. Es dauerte mehrere Minuten, bis er begriff, dass er geträumt hatte. Da waren keine drei greisenhaften Offiziere, kein Tisch, kein tonnenschwerer Reichsadler. Er lag immer noch in dem kleinen Hotelzimmer, und es war Nacht. Der trübe Schein einer Straßenlaterne fiel durch das Fenster und tauchte alles in ein diffuses, konturloses Licht.
Er versuchte weiterzuschlafen, aber es gelang ihm nicht. Alles in seinem Kopf schien zu rotieren. Der Traum hatte ihn brutal daran erinnert, dass er einen unverzeihlichen Fehler gemacht hatte, als er damals vor dem Ehrengericht seines Regiments stand. Seine übereilte Entscheidung zerstörte sein Leben, und das erste Opfer wurde seine Verlobung mit Alexandra. In den Wochen nach seinem Abschied von der Armee vergiftete eine zunehmende Reizbarkeit ihr Verhältnis. Dass er ihretwegen seine Offizierslaufbahn aufgegeben hatte, wurde zu einer Belastung, die mit jedem Tag anzuschwellen schien. Sie redeten nur selten darüber, aber es war ständig anwesend, unsichtbar und doch bedrohlich, wie die zum Bersten aufgeladene drückende Luft vor einem Gewitter. Er begann, Dankbarkeit einzufordern, aber Alexandra versagte sie ihm. Daraufhin trug er eine beleidigte und vorwurfsvolle Haltung zur Schau, in die er sich immer mehr hineinsteigerte. Schließlich, als er wieder einmal betonte, dass sie es nur ihm zu verdanken hatte, wenn sie weiterstudieren konnte, wurde es ihr zu viel. Hart und offen sagte sie ihm ins Gesicht, dass er nicht selbstlos, sondern unglaublich dumm gehandelt habe. Er hätte sich den alten Männern mit den verstaubten Ehrbegriffen widersetzen können, aber er habe zu viel Angst vor den Konsequenzen gehabt.
»Ich kann nicht mit dir zusammenleben«, hatte Alexandra gesagt, »wenn ich für den Rest meines Lebens jeden Tag deine Vorwürfe erdulden muss, nur weil du zu feige warst, dich gegen etwas zu wehren, was sowieso schon tot ist!« Und dann war sie gegangen.
Prieß hatte bald einsehen müssen, wie sehr sie im Recht gewesen war. Die Zeiten hatten sich zu ändern begonnen, langsam zwar, aber spürbar. Doch er hatte es vorgezogen, aus devotem Respekt vor der schon zerbröckelnden Vorstellungswelt alter Männer den Rückzug anzutreten, obwohl ihm keine wirkliche Gefahr gedroht hatte.
Ich dachte, ich hätte es endlich begriffen … Scheiße, warum habe ich bloß diesen Blödsinn von mir gegeben? Wie bescheuert kann ein Mensch eigentlich sein?
Lange starrte er durch das Halbdunkel an die Zimmerdecke. Irgendwann hielt er die nagenden Gedanken nicht mehr aus; er musste sich ablenken. Er drückte den Schalter der Lampe neben dem Bett und griff blind in das offene untere Fach des Nachttisches, wo einige Zeitschriften lagen. Prieß erwischte eine zwei Monate alte Ausgabe des Illustrierten Journals . Ihr Titelbild war das Foto, das damals um die Welt gegangen war
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