Kaisertag (German Edition)
selbstverständlich. Nun saßen die beiden Frauen im großbürgerlich überladenen Salon der alten Frau Kommerzienrat, umgeben von wuchtigen altmodischen Möbeln, faltenreich gerafften schweren Vorhängen und zahlreichen teuren Antiquitäten in irritierend wahlloser Zusammenstellung.
»Oh, er war so ein feiner Mann, der Herr Oberst Diebnitz. Immer höflich und zurückhaltend. Man merkte, dass er Offizier war. Nur Offiziere wissen sich wirklich zu benehmen, pflegte mein verstorbener Gatte stets zu sagen.«
»Ich verstehe, Frau Wehnicke«, erwiderte Alexandra und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie das Gerede ermüdete, mit dem diese Frau sie schon seit über einer Stunde eindeckte.
»Es ist furchtbar, dass der Herr Oberst auf diese Weise von uns gegangen ist, wirklich ganz furchtbar. Doch er hat einen ehrenhaften Weg gewählt, aus dem Leben zu scheiden, eben ganz Offizier der alten Schule. Auch in größter Bedrängnis hat man immer noch seine Ehre, wie mein verstorbener Gatte immer sagte.«
Alexandra nickte beipflichtend und seufzte unhörbar. Dorothea Wehnicke trieb sie langsam, aber sicher zur Verzweiflung. Nicht nur, dass sie unentwegt Plattitüden von sich gab; sie schien auch zu keinem Thema eine eigene Meinung zu haben und repetierte ausschließlich die Ansichten ihres seit acht Jahren toten Ehemanns. Eine kurze Pause im monotonen Redefluss der alten Dame nutzte Alexandra dann kurz entschlossen, um endlich zu den Fragen zu gelangen, deretwegen sie hierher gekommen war:
»Frau Wehnicke, können Sie sich erinnern, ob sich der Oberst in den Tagen vor seinem Freitod anders verhalten hat als sonst? Erschien er Ihnen, als ob er Sorgen gehabt hätte, vielleicht sogar Angst?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn leider in der letzten Zeit vor seinem Dahinscheiden kaum gesehen. Er muss sehr beschäftigt gewesen sein, denn er hielt sich die meiste Zeit im Forschungsinstitut auf. Seine Pflicht ging ihm über alles. Ganz wie mein verstorbener Gatte stets sagte, ist die Pflicht das Höchste im …«
»Verehrte Frau Kommerzienrat«, unterbrach Alexandra Dühring eilig und mit einem besonders freundlichen Lächeln, »ich würde gerne einen Blick in die Wohnung des Verstorbenen werfen und danach mit seinem Offiziersburschen reden.«
»Erwähnen Sie mir diesen Menschen nicht!«, forderte Dorothea Wehnicke ärgerlich. »Gleich nachdem die Herren aus Kiel mit ihm gesprochen und unsere Lübecker Polizisten die Räume des Herrn Oberst versiegelt hatten, ist er heimlich gegangen, ohne zuvor den Vertrag für sein Mansardenzimmer zu kündigen.«
Das ließ die Polizeipräsidentin aufmerken. Wenn Karl Lämmle weder in Hamburg noch in Lübeck war, wo konnte er dann sein? Und warum war er so überraschend verschwunden?
»Haben Sie denn nicht bei Herrn Diebnitz’ Witwe angerufen, um sich zu erkundigen, ob der Offiziersbursche nach Hamburg zurückgekehrt ist?«
Diesen Gedanken wies Dorothea Wehnicke entschieden zurück. »Es schickt sich nicht, wegen derartiger Ärgernisse mit Mietern von schlechtem Charakter anständige Menschen zu belästigen. Er war übrigens eher ein Sekretär als ein Offiziersbursche, ein ehemaliger Soldat von gewiss fünfzig Jahren. Ich bin von dieser Person ernsthaft enttäuscht. Dabei machte er zunächst einen recht angenehmen Eindruck. Wenn er sonntagabends von seinem freien Wochenende zurückkehrte, brachte er meinem Hausmädchen jedes Mal frischen Schinken und Landwurst mit, was sicherlich eine ziemlich rustikale Art ist, Aufmerksamkeit auszudrücken. Dennoch wirkte er auf mich sympathisch, darum bin ich von seinem späteren Verhalten auch maßlos enttäuscht. Mein verstorbener Gatte hatte vollkommen recht, wenn er sagte, dass man Leuten aus den unteren Schichten kein Vertrauen schenken dürfe, da es ihnen an Zuverlässigkeit mangelt …«
Schweigend ertrug Alexandra den neuen Sermon und ließ sich dann von Dorothea Wehnicke zu der Wohnung in der oberen Etage hinaufführen.
Gleich an der Wohnungstür wartete eine Überraschung auf die Polizeipräsidentin. Ihre Leute hatten den Eingang versiegelt, nachdem die Inspektoren aus Kiel sich in den Räumen umgesehen und nichts von Bedeutung gefunden hatten. Die Wohnung musste vier Wochen lang verschlossen bleiben für den Fall, dass eine ermittelnde Behörde dort noch einmal Einsicht nehmen wollte. So besagte es ein Reichsgesetz, das ursprünglich zur Sicherstellung von Beweisen nach der Verhaftung politischer Straftäter
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