Kaisertag (German Edition)
erlassen worden war. Nach Ablauf dieser Zeitspanne wäre das Siegel von einem Beamten entfernt worden, und Franziska Diebnitz hätte das persönliche Eigentum ihres Mannes abholen lassen dürfen.
Ein Papierstreifen mit dem doppelköpfigen Lübecker Adler klebte tatsächlich neben der Klinke über der Spalte zwischen Tür und Rahmen. Doch es konnte unmöglich ein echtes Polizeisiegel sein, trotz des absolut identischen Aufdrucks. Lübecker Amtssiegel wurden aus Heftchen herausgetrennt, sodass sie am linken Rand zwangsweise eine Risskante hatten. Dieses jedoch hatte einen völlig glatten Rand. Es konnte auf gar keinen Fall aus einem der gehefteten Blöcke stammen, das erkannte Alexandra Dühring sofort.
Sie zog das Papier vorsichtig vom lackierten Holz ab und steckte es ein. Dass etwas nicht stimmte, ließ sie sich nicht anmerken; aber während Dorothea Wehnicke aufschloss, fragte Alexandra beiläufig:
»Ich hoffe, Sie wurden nicht über Gebühr häufig von meinen Beamten gestört?«
»Oh nein, ganz und gar nicht. Sie waren ja nur zweimal hier, und sie waren immer sehr höflich. Und während sie sich in der Wohnung umgeschaut haben, waren die drei Herren sehr rücksichtsvoll und leise, man hat sie kaum hören können. Wie schon mein seliger Gatte sagte …«
Drei Männer, die sich als Polizisten ausgegeben haben, um Diebnitz’ Wohnung zu durchsuchen , wunderte sich die Polizeipräsidentin, wer kann das gewesen sein? Vielleicht Leute vom RMA? Nein, die hätten doch lediglich ihre Dienstmarken vorzeigen müssen, um hier hineinzukommen. Andererseits … wer weiß schon, wie die arbeiten …
Wenn die drei Unbekannten tatsächlich die Zimmer durchsucht hatten, dann waren sie dabei sehr umsichtig zu Werke gegangen. Nichts verriet, dass sich hier neugierige Unbefugte zu schaffen gemacht hatten; weder standen Schubladen offen noch hatte jemand die Sessel auf der Suche nach versteckten Geheimnissen aufgeschlitzt. Aber das waren ohnehin Klischeebilder. Auf diese Weise gingen höchstens Einbrecher auf der hastigen Suche nach verborgenen Wertsachen vor. Fachleute hatten bessere Methoden und konnten einen Raum praktisch umkrempeln, ohne verräterische Spuren zu hinterlassen. Alexandra Dühring wusste das, und daher machte sie sich auch gar nicht erst die Mühe, nach solchen Hinweisen zu suchen. Es wäre ein aussichtsloses Unterfangen gewesen.
Stattdessen schaute sie sich in der Wohnung um, ohne genau zu wissen, was sie eigentlich zu finden hoffte. Die Räume waren ebenso vollgestopft und plüschig wie die untere Etage des Hauses. Da Dorothea Wehnicke das Stockwerk komplett möbliert vermietet hatte, fand sich in der Einrichtung kaum etwas, das Oberst Diebnitz’ Handschrift getragen hätte. Der Schreibtisch im Arbeitszimmer sah aus wie unbenutzt, aber das war nicht verwunderlich. Ein Geheimdienstoffizier hätte wohl kaum in einem Privathaus vertrauliche Dokumente bearbeitet und aufbewahrt. Aber dafür war das deckenhohe Bücherregal gut gefüllt, vorwiegend mit Taschenbüchern.
»Gehören diese Bücher Ihnen?«, wollte Alexandra wissen.
»Oh nein«, antwortete die alte Dame, als sei ihr diese Vermutung peinlich. »Ich besitze ausschließlich gebundene Werke. Mein verstorbener Gatte war immer der Auffassung, broschierte Ausgaben stünden der Würde der Literatur nicht an.«
Die Polizeipräsidentin ließ den Blick über die Buchrücken schweifen und überflog die Buchtitel. Kulturelle Schwergewichte wie Tolstois Krieg und Frieden , Shakespeares gesammelte Dramen, Günter Grass’ Danziger Saga und Thomas Manns Buddenbrooks standen neben populären Unterhaltungsromanen, darunter mehrere Sherlock-Holmes-Bände und sogar Lyon Sprague de Camps Finsternis falle hernieder . Etwa ein Drittel des Regals nahmen Sachbücher über Geschichte, Politik, Militärwesen und originellerweise auch über Gartenbau ein. Alexandra kam zu dem Schluss, dass der Oberst einen recht eklektischen Geschmack gehabt haben musste.
»Er hat sicher viel gelesen«, bemerkte sie, »das sind gut und gerne zweihundert Bücher.«
»Ja, der Herr Oberst war ein höchst belesener Mann. Ich hatte ihn mehrmals zu Gast zum Tee, und das Niveau der Konversation mit ihm war immer erfreulich hoch.«
Ob das Sammelsurium von Geschriebenem aller Art tatsächlich Ausdruck eines besonders hohen Niveaus war, bezweifelte Alexandra. In jedem Fall bezeugte die Zusammenstellung seiner Bibliothek, dass Gustav Diebnitz wirklich vielseitig interessiert gewesen sein musste.
So
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