Kaisertag (German Edition)
fertig.«
»Der Herr segne und behüte euch, Er lasse Sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Amen.«
Eine helle, aber wohlklingende und kraftvolle Stimme sprach die Schlussworte des Gottesdienstes, als Prieß gerade die mit Menschen gefüllte Marienkirche betrat. Die Worte hallten von den hohen Gewölben wider und wurden so durch das ganze Kirchenschiff getragen. Die Gemeinde antwortete mit einem Amen aus Hunderten von Kehlen. Dann setzte die mächtige Orgel ein und erfüllte den riesigen Raum mit ihren satten, brausenden Klängen; die Anwesenden erhoben sich von den Kirchenbänken.
Prieß blieb unauffällig in einem ruhigen Winkel nahe des Ausgangs stehen und beobachtete, wie der Pastor mit der breiten weißen Halskrause, jenem markanten Kleidungsstück, an dem die lutherischen Geistlichen der Hansestädte hartnäckig seit dem siebzehnten Jahrhundert festhielten, von der Kanzel hinabstieg, was ihm sichtlich nicht leichtfiel. Der weite schwarze Talar konnte nicht verbergen, dass er sehr beleibt war. Der Geistliche schritt zwischen den Bankreihen hindurch zum Ausgang, und die Gemeinde folgte ihm. Schließlich bezog er Posten neben einem der schweren alten Türflügel des Kirchenportals und verabschiedete sich von den an ihm vorbeidefilierenden Leuten. Als dann endlich der Strom der Menschen verebbte und auch der letzte Kirchgänger dem Pastor die Hand geschüttelt hatte, trat Prieß aus seiner Ecke und sprach ihn an:
»Verzeihen Sie bitte, habe ich die Ehre mit Herrn Pastor Dietrich Sebastian Wilhelmi?«
Der Mann sah ihn aus wachen kleinen Augen in einem beinahe babyartig runden Gesicht an und lächelte freundlich. »Ja, das bin ich. Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Herr …?«
»Prieß, Friedrich Prieß. Ich hatte vor Kurzem meine Karte bei Ihrem Küster hinterlassen.«
»Oh ja, ich entsinne mich … ich hatte nämlich schon gerätselt, was einen Privatdetekiv zu mir führen könnte. Ich werde doch hoffentlich nicht in Verruf geraten sein?«
»Herr Pastor, in dieser Hinsicht kann ich Sie voll und ganz beruhigen. Ich bin wegen des Todes von Oberst Gustav Diebnitz in Lübeck.«
Wilhelmis Augen blitzten bei der Erwähnung des Verstorbenen kurz auf; dann sah er betrübt zu Boden. »Der Arme … es ist eine Tragödie. Als Geistlicher kann ich seinen Selbstmord natürlich nicht gutheißen. Aber als sein langjähriger Freund bete ich, dass der Herr in Seiner Güte ihm vergeben möge.«
»Sie kannten sich schon lange?«
Der Pastor bejahte. »Seit gut und gerne zehn Jahren. Wir hatten uns ein wenig aus den Augen verloren, nachdem ich von meiner Hamburger Pfarrstelle abberufen worden war. Darum war es auch eine erfreuliche Überraschung, als Gustav Diebnitz vor einigen Monaten in diese Stadt versetzt wurde. Doch sagen Sie, weshalb beschäftigt Sie dieser traurige Vorfall?«
Obwohl Prieß im Allgemeinen nicht viel für Leute übrig hatte, deren Beruf es war, anderen Predigten zu halten, war ihm Wilhelmi nicht unsympathisch. Der Mann hatte eine offene Art, die ihm gefiel. Außerdem verriet eine sanfte rötliche Färbung seiner Nase, dass der Herr Pastor wohl nicht nur zum Abendmahl dem Wein zusprach. Das verlieh dem Träger der würdevollen protestantischen Amtsrobe einen angenehm menschlichen Zug.
»Ich wurde von Angehörigen des Obersts mit der Aufgabe betraut herauszufinden, wieso er sich das Leben genommen hat. Meine Auftraggeber wünschen Klarheit über die Gründe, die zu einem derartig schwerwiegenden Entschluss führten. Und sie wollen die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, sollte es welche geben«, antwortete Prieß. Der Detektiv hatte sich entschlossen, auch Wilhelmi gegenüber bei dieser Version der Dinge zu bleiben. Niemand außer ihm und Alexandra brauchte vorerst zu wissen, dass der scheinbare Selbstmord keiner sein konnte.
»Eine Absicht, die Anerkennung verdient«, meinte der Pastor. »Doch ich fürchte, ich werde Ihnen bei der Erfüllung dieser Aufgabe keine große Hilfe sein. Der Oberst und ich, wir haben uns etwa zwei Wochen vor seinem beklagenswerten Dahinscheiden zum letzten Mal gesehen. Er war guter Dinge und hat mir gegenüber keinerlei drückende Sorgen erwähnt. Sie sehen, was immer den Ärmsten in den Tod getrieben hat, kann ihm erst danach widerfahren sein – falls er sich nicht verstellt hat. Aber das halte ich kaum für denkbar, Herr Prieß. Ich kannte ihn zu gut, als dass ich davon nichts bemerkt hätte.«
Prieß wollte noch eine weitere Frage
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