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Kaisertag (German Edition)

Kaisertag (German Edition)

Titel: Kaisertag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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stellen, doch da tauchte der Küster auf und teilte dem Pastor mit, die Herrschaften von der Gemeinnützigen Gesellschaft erwarten ihn bereits zum festlichen Pfingstempfang in der Kriegsstube des Rathauses.
    »Ach, man lässt uns keine Ruhe«, sagte Wilhelmi fröhlich in gespieltem Klageton. »Sie werden verstehen, dass ich Sie jetzt leider verlassen muss. Ich wünsche Ihnen, dass Ihre Anstrengungen mit der Hilfe unseres Herrn von Erfolg gekrönt sein werden, Herr Prieß. Mögen Sie noch einen schönen Tag haben und Gott mit Ihnen.«
    Wilhelmi verließ mit dem Küster die Kirche. Prieß blieb noch für einen Moment unterhalb des Sandsteinportals stehen. Die letzten Töne der gewaltigen Orgel verhallten zwischen den himmelhohen Pfeilern.
      
    Aus dem Munde des Fremdenführers klang die sich oft so schwerfällig dahinschleppende russische Sprache elegant und flüssig. Er erläuterte seinen Zuhörern Bedeutung und Geschichte des Buddenbrookhauses, wobei er auch noch eine stark komprimierte Zusammenfassung des weltberühmten Romans vortrug. Die Verschlüsse der Leica- und Gorbatschow-Kameras klickten, die Rokokofassade des Gebäudes wurde auf zwei Dutzend Kleinbildfilme gebannt. Dann zogen die russischen Touristen weiter zur nächsten Sehenswürdigkeit. Sie gingen die Mengstraße hinab, ohne der alten Kapelle Maria am Stegel, die schon lange nur noch als Lagerhaus des Städtischen Bauamts diente, Beachtung zu schenken.
    Alexandra, die das alles aus der Nähe beobachtet hatte, schüttelte amüsiert den Kopf. Ihr war ein Rätsel, weshalb es Menschen aus dem Zarenreich oder anderen entfernten Winkeln der Welt nach Lübeck zog, nur um hier die Schauplätze eines ihrer Meinung nach todlangweiligen Buches in natura zu sehen. Sicher, Thomas Mann hatte für die Buddenbrooks den Nobelpreis erhalten; doch das war 1923 gewesen.
    Na, vielleicht liegt’s ja an mir , dachte sie, weil mir einfach der Sinn für das Geniale an dem Wälzer fehlt. Möglicherweise ist dieser Roman ja wirklich unglaublich brillant, aber das werde ich wohl nie rausfinden, wenn ich mich schon nach zehn Seiten hoffnungslos in diesen Bandwurmsätzen verheddere.
    In diesem Moment tauchte Friedrich Prieß im Arkadengang des lang gestreckten Kanzleigebäudes zu Füßen des steil aufragenden gotischen Chors von St. Marien auf, und Alexandras literarische Überlegungen fanden ein abruptes Ende. »Na, was hast du vom Pastor erfahren?«, wollte sie wissen, nachdem Prieß sich zu ihr gesellt hatte.
    Er zuckte mit den Schultern. »Eigentlich nichts, was ich nicht schon vorher wusste. Das Gespräch hätte ruhig ergiebiger verlaufen dürfen. Aber wenigstens ist dieser Wilhelmi kein unangenehmer Knabe.«
    Alexandra verzog den Mund. »Täusch dich da mal bloß nicht. Der Mann mag ja ganz freundlich und gemütlich aussehen, aber hinter der Kulisse steckt ein erzkonservativer Widerling. Keiner sonst hat sich so hartnäckig gegen meine Ernennung zur Polizeipräsidentin gestemmt. Du hättest hören sollen, was für Äußerungen er teilweise von sich gegeben hat. Und er macht mir immer noch das Leben schwer, indem er nicht müde wird, bei jeder Gelegenheit zu betonen, Frauen seien vom lieben Gott ausschließlich zum Kinderkriegen und Kochen erschaffen worden.«
    »Na ja, vielleicht ist er ein wenig von gestern.«
    »Eher aus dem Mittelalter. Ach, ich will mich nicht ärgern, dazu ist der Tag viel zu schön. Wie sieht’s aus, lädtst du mich nachher zum Abendessen ein?«
    »Sehr gerne sogar. Wenn ich schon ausnahmsweise mal genug Geld in der Tasche habe, will ich das doch auch ausnutzen.«
    Alexandra hob scherzhaft warnend den Zeigefinger. »Aber aufgepasst, du musst mir versprechen, diesmal nicht aus der Rolle zu fallen, sonst …«
    »Das Versprechen hast du«, bestätigte Prieß, »großes Ehrenwort.«
        
     

Dienstag, 24. Mai
     
    Verschlafen tastete Friedrich Prieß nach dem Reisewecker, den er irgendwo auf dem Nachttisch neben sich vermutete. Schließlich fand er ihn, und weil er sich nicht überwinden konnte, den Kopf aus dem Kissen zu heben, hielt er ihn sich ganz nah vor das Gesicht; anders war es ihm unmöglich, mit seinen noch von Müdigkeit verschleierten Augen das Zifferblatt zu erkennen.
    Als er sah, dass es schon fast halb zehn war, quälte er sich widerwillig aus dem Bett und streckte sich kräftig, wobei er das Gefühl hatte, dass jeder einzelne Knochen seines Körpers dagegen protestierte. Prieß konnte sich gar nicht erklären, weshalb ihm der

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