Kaisertag (German Edition)
unter Feldmarschall Graf von Kai-Feng gedient hatte. Seitdem hatten weder Deutschland noch England, Frankreich oder eine andere Nation von Bedeutung größere militärische Aktionen durchführen müssen, als gelegentliche Eingeborenenaufstände in ihren Kolonien niederzuwerfen. Prieß konnte sich nicht ausmalen, wie ein wirklicher Krieg aussehen würde. Es war für ihn etwas Fremdes, das er sich nicht vorstellen konnte und das ihm gerade deshalb Angst machte.
»Verzeihung, Herr Prieß?«
Friedrich blickte auf. Der Wirt hinter dem Tresen hatte den Telefonapparat neben die Vitrine mit den in Cellophan eingewickelten belegten Brötchen gestellt und hielt den Hörer in der Hand. »Entschuldigen Sie die Störung, aber hier ist ein Anruf für Sie.«
Prieß legte die Zeitung auf den Tisch, ging durch die Gaststube, nahm vom Wirt mit einem Kopfnicken, das Dank andeuten sollte, den Telefonhörer entgegen und meldete sich mit seinem Namen.
»Guten Morgen, Fritz«, sagte Alexandra Dühring am anderen Ende der Leitung. »Dass ich dich noch im Hotel erwischt habe, trifft sich gut. Es gibt ganz wichtige Neuigkeiten. Am besten kommst du sofort her zu – warte bitte mal kurz, ja?«
Undeutlich hörte Friedrich, wie Alexandra mit jemandem redete, der offenbar gerade in ihr Büro gekommen war. Nach einigen Momenten wandte sie sich dann wieder an Prieß. »Eine kleine Änderung. Ich muss dringend zum Katharineum, es gibt dort Schwierigkeiten. Kommst du bitte auch dorthin? Was ich dir zu sagen habe, ist dringend.«
»Sicher. Wenn du mir verrätst, was das Katharineum ist.«
»Ein Gymnasium in der Innenstadt, Königstraße«, erwiderte sie in hörbarer Eile. »Leicht zu finden, neben einer Kirche ohne Turm. Wir sehen uns also gleich dort.«
Es klickte, und nach zwei Sekunden Stille setzte das monotone Freizeichen ein. Prieß legte den Hörer zurück auf das Telefon. Dann legte er fünfzig Pfennige auf den Tresen und verließ rasch den Raum, ohne seinen restlichen Kaffee auszutrinken.
Prieß fand das Katharineum ohne Schwierigkeiten. Vor den Toren der Schulhofmauer standen zwei Polizeiwagen, und es hatten sich auch einige Dutzend Schaulustiger eingefunden. An den vielen Fenstern des Gebäudes hingen ganze Trauben von Schülern, die das Geschehen auf dem Hof verfolgten, und schon von Weitem war ein chaotisches, aufgeregtes Stimmengewirr zu vernehmen.
Die schmiedeeisernen Gittertore standen weit offen, also nahm sich Prieß die Freiheit, einfach zwischen den neugierigen Zaungästen hindurchzugehen und den Schulhof zu betreten. Als er sah, was sich dort abspielte, traute er zunächst seinen Augen nicht.
Die Gymnasiasten drängten sich auf einer Seite des Platzes, nur mit großer Mühe hielt eine Kette von Schutzmänner sie im Zaum. Ihnen gegenüber hatte sich das Lehrerkollegium versammelt, und die Herren Studienräte drohten ihren Schülern lautstark alle Arten disziplinarischer Konsequenzen an. Doch jede ihrer Äußerungen wurde von einem Schwall von Pfiffen und Protestrufen übertönt. Einige Lehrer schwenkten demonstrativ ihre schwarzen Büchlein und kündigten an, sich die Namen aller Schüler zu notieren, die nicht auf der Stelle in die Klassenräume zurückkehrten. Ein spöttisches Grölen war die einzige Reaktion.
Auf der schmalen freien Fläche zwischen den beiden Gruppen standen ein Mann mit exakt gestutztem, grauem Vollbart und dunklem Gehrock, offenbar einer der Lehrer, sowie ein Junge mit Schülermütze und blauen amerikanischen Hosen. Prieß erkannte ihn wieder, er hatte ihn am Tag zuvor im Ausflugslokal gesehen. Allerdings hätte er nicht gedacht, dass er ihm schon so bald wiederbegegnen würde, und schon gar nicht als Mittelpunkt eines so merkwürdigen Szenarios.
Der Gymnasiast und sein Lehrer starrten sich feindselig an, und zwischen ihnen stand Alexandra, die offenbar versuchte, die Situation zu klären.
»Es ist ein Skandal!«, wetterte der Studienrat und schwang aufgebracht den Zeigefinger. »Ein Skandal, jawohl! Siebert, das wird Folgen für Sie haben! Ich werde Sie der Schule verweisen lassen!«
»Gar nichts werden Sie!«, erwiderte der Schüler trotzig. »Es war schon lange Zeit, dass Ihnen mal jemand auf die Finger klopft.«
Das Gesicht des Lehrers lief zornesrot an. »Unerhört! Dafür werden Sie …«
Nun schaltete sich Alexandra Dühring ein. »Ich bitte Sie! Ich muss wissen, was hier vorgefallen ist. Herr Studienrat Rieckhoff, schildern Sie mir den Vorfall bitte aus Ihrer
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